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GSV-Gutachten

„Hochgradig gefährdet“

„Zu viele Aufgaben, zu wenig Zeit: Überlastung von Lehrkräften in der Grundschule“: So lauten Titel und zugleich Kernaussage eines Gutachtens, das ein Bremer Forschungsinstitut im Auftrag des Grundschulverbands (GSV) erarbeitet hat.

Die Politik hat Lehrkräften an Grundschulen so viele Aufgaben zugeschrieben, dass pro Unterrichtsstunde rein rechnerisch höchstens zwei Minuten Zeit für die Vor- und Nachbereitung bleiben. (Foto: Eckhard Stengel)

In den vergangenen 40 Jahren haben fast 3.000 wissenschaftliche Veröffentlichungen die Be- oder Überlastungen von Lehrkräften belegt, wie das Bremer „Institut für interdisziplinäre Schulforschung“ (ISF) in seiner 112-Seiten-Studie schreibt. Doch weitreichende Konsequenzen blieben bisher aus. Die ISF-Forscher Reiner Schölles, Hans-Georg Schönwälder, Gerhart Tiesler und Helmut Zachau sprechen deshalb von „Beton der Ignoranz“ und „organisierter Verantwortungslosigkeit“.

Neben der üblichen Befragung von Betroffenen arbeiten die Gutachter auch mit einer neuartigen „objektivierten Betrachtung des Arbeitsvolumens“: Am Beispiel Bremens haben sie ermittelt, wie viele Aufgaben den Lehrkräften per Gesetz oder Verordnung zugewiesen werden. Allein die Lehrerdienstordnung, die Präsenzzeit- und die Fortbildungsverordnung sehen mehr als 50 Aufgaben vor. Die acht wesentlichsten aus ISF-Sicht: unterrichten, korrigieren, Aufsicht führen, an Konferenzen teilnehmen, Fortbildungen besuchen, sich über neue Anweisungen und Fachliteratur informieren, Lernentwicklungen dokumentieren sowie Schülerinnen, Schüler und Eltern beraten.

Arbeit ist „objektiv nicht zu schaffen“

Für diese acht von über 50 Aufgaben haben die Gutachter den Zeitaufwand einer Vollzeitkraft geschätzt – ohne Vor- und Nachbereitung des Unterrichts. Demnach braucht eine „Modell-Lehrkraft“ mit 28 Unterrichtsstunden pro Woche unter anderem dreimal 20 Minuten für Pausenaufsichten und fünf Zeitstunden fürs Korrigieren von Hausaufgaben, Klassenarbeiten oder Wochenplänen. Hinzu kommt ein weiterer „Zeitfresser“: die Wegezeiten in der Schule.

Insgesamt ergibt das 1.743 Zeitstunden pro Jahr – bei einer Soll-Arbeitszeit von 1.780 Stunden. Bleiben also nur noch 37 Stunden übrig. Selbst wenn diese Zeit komplett für die Vor- und Nachbereitung genutzt würde (und nicht für die über 40 weiteren noch nicht mit eingerechneten Aufgaben), blieben dafür nur zwei Minuten pro Unterrichtsstunde.

Mit diesem Rechenmodell sieht das ISF endgültig bewiesen, dass Lehrkräfte strukturell überfordert werden. In der vorgesehenen Zeit sei die Arbeit „objektiv nicht zu schaffen“, schon gar nicht angesichts wachsender Herausforderungen wie Inklusion oder Zuwanderung. Die Lehrkräfte würden „zu permanenten Dienstpflichtverletzungen gezwungen“ und könnten ihre Aufgaben oft nur unzulänglich erfüllen. Das verschlechtere die Qualität des Schulwesens und biete „die Basis für ein latentes Lehrerbashing“.

Zwang, Noten zu geben

Diese Befunde decken sich mit dem Überlastungsgefühl der Betroffenen. Die Gutachter haben – noch vor Corona – 239 Lehrkräfte an zwölf Grundschulen in Bremen, Bayern und Nordrhein-Westfalen befragt und dabei eine „hohe Belastungswahrnehmung“ festgestellt.

Der „Spitzenstressor“ ist demnach der Zwang zur Notengebung und Leistungseinordnung: Jede zweite Lehrkraft bezeichnet es als sehr belastend, Zeugnisse zu schreiben. Tagtäglich stört vor allem das undisziplinierte oder aggressive Verhalten einzelner Kinder. Zu den „Belastungsspitzen“ zählen auch schwierige Familienverhältnisse, „Trägheit, Unvermögen und Anspruchshaltung mancher Eltern“, zu große Klassen, Lärm und Bürokratie. Die Zusammen-arbeit im Kollegium wird zwar als zeitaufwändig wahrgenommen, aber auch als psychisch entlastend.

Trotz aller Probleme: „Die -Motivation und das Engagement sind hoch“, schreiben die Gutachter. Nur hätten die Befragten oft das Gefühl, ihren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können.

Zu dem Gutachten gehören auch Handlungsempfehlungen:

  • Die Kultusministerkonferenz (KMK) sollte Zeitbudgets für die pädagogischen Kernaufgaben der Lehrkräfte festlegen. Alle anderen Aufgaben seien möglichst anderen Beschäftigtengruppen zuzuteilen. Außerdem sollte die KMK wegen der „hochgradigen Gefährdung der Gesundheit der Grundschullehrerinnen“ einen Gesundheitsgipfel einberufen.
  • Die Schulen brauchten flache Hierarchien, kollegiale Zusammenarbeit und möglichst große Entscheidungsbefugnis der Lehrkräfte. Ein Mitglied der Schulleitung sollte speziell für die Verwaltung zuständig sein.
  • Für die Inklusion sei eine durchgängige Doppelbesetzung nötig.
  • An den Grundschulen sollten keine Noten mehr vergeben werden. Die „Praxis der destruktiven Testeritis“ müsse umgehend enden.
  • Die meist bildungsbürgerlich geprägten Kollegien sollten gezielt dabei gefördert werden, ihre multikulturelle Empathie zu erweitern.
  • Bei baulichen Problemen mit Lärm und Luftqualität sollte das Gesundheitsamt eingeschaltet werden. Außerdem empfehlen die Gutachter, leiseres Verhalten einzuüben und regelmäßig zu lüften, in Nicht-Corona-Zeiten zum Beispiel für zwei Minuten in der Mitte der Stunde.
  • „Kollegien und Schulleitungen sollten zur eigenen rechtlichen Absicherung Überlastanzeigen an den Dienstherrn stellen.“ Auch Musterklagen vor den Arbeitsgerichten seien möglich.

Die GEW sieht durch die Untersuchung ihre Forderungen bestätigt, die Pflichtstundenzahl zu senken, die Schulleitungen zu entlasten und Unterstützungssysteme wie den schulpsychologischen Dienst oder Supervisionen auszubauen. „Die politisch Verantwortlichen“, sagt GEW-Vorstandsmitglied Schule Ilka Hoffmann, „haben immer noch nicht wahrgenommen, dass sich die Zeiten und vor allem auch die pädagogischen Herausforderungen geändert haben.“ Den Schulen dürften nicht immer mehr Aufgaben aufgebürdet werden, ohne die Lehrkräfte an anderen Stellen zu entlasten.