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"Die Sanierung ist überfällig": DGB-Sommertour-Station an Berliner Gesamtschule

In der Jungentoilette der Fritz-Karsen-Schule lösen sich die Fliesen von den Wänden, die Waschbecken sind verschmutzt. "Dass eine Schule in so einem grottigen Zustand ist, ist eines reichen Landes nicht würdig", sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann.

Berlin City-West, ein paar Meter vom Ku´damm entfernt: Tuckernd steht der bunte DGB-Bus vor dem Hotel Ellington. Die Sonne blitzt durch die Straßenschlucht, rot leuchtet der Schriftzug "Sommertour 2017" auf grasgrünem Grund. Gut 20 Gewerkschafter haben sich versammelt. DGB-Bundesvorsitzender Reiner Hoffmann und die Vorsitzenden von acht Gewerkschaften von IG Metall bis ver.di sind dabei. Zum zweiten Mal lädt der Deutsche Gewerkschaftsbund zur viertägigen Sommertour ein. Im vergangenen Jahr Köln, dieses Jahr Stippvisite bei Firmen und Einrichtungen in Berlin und Brandenburg.

Die Idee: Einen Einblick bekommen in den Organisationsbereich der anderen. Konkret und anschaulich. Wo liegen die Probleme? Was läuft? Wie sieht es aus in diesen anderen Gewerkschafts-Welten fern der eigenen? Auf dem Programm stehen Besuche beim Lichtprofi Osram und bei der Bundespolizei, es geht zu BASF, Schultheiss und der DB Cargo AG, zu den Berliner Verkehrsbetrieben und dem Betonhersteller CEMEX. Heute, an Tag eins, führt GEW-Chefin Marlis Tepe die Kollegen in ihre Bildungswelt: zur ältesten Gesamtschule Deutschlands.

Zeit fürs Boarding: Tourleiterin Katja Grote von der Agentur Freigang begrüßt die Gäste. Der Kameramann des Sommertour-Dokufilmteams nimmt Marlis Tepe ins Visier: "Schönen Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute geht es zur Fritz-Karsen-Schule in Berlin Britz. Seit 1948 wird dort gemeinsam von Klasse 1 bis 13 gelernt und das in einem Viertel mit hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Kollegen betrachten das nicht als Problem, sondern als wertvolle Ressource." Langsam rollt der Bus Richtung Süden.

Alexander Kirchner, Vorstand der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, ist gespannt. Der Besuch bei der Kölner Schule im vergangenen Jahr ist ihm noch im Kopf. Unter welchen Bedingungen die Lehrkräfte dort Inklusion umsetzen müssen, wie hart der Alltag als Pädagoge sein kann: "Das ist mir erst im Gespräch mit den KollegInnen vor Ort richtig klar geworden", sagt Kirchner. "In der Außensicht erscheinen die Dinge oft viel einfacher." 

Die Straßen werden enger, die Häuser flacher. Kompakte Backsteinbauten, Fronttreppen mit Blumenkübeln, Vorgärten. Schnaufend hält der Bus am Rande der Hufeisensiedlung, einer Ikone des frühen sozialen Wohnungsbaus am Rande Berlins. Der Weg durch einen Park führt zur weitverstreuten Gebäudelandschaft der Schule. Beigefarbener Rauputz, graffitibesprüht, daneben moderner Stahl und Glas, ein Mix der Zeitläufe aus bald 70 Jahren Schulgeschichte.

"Eine inklusive Schule mit exklusiver Schulform funktioniert nicht."

 

In der Bibliothek warten Schulleiter Robert Giese, eine Handvoll Lehrer, Sonderpädagogen, Elternvertreter und Schüler. Trotz Ferien sind sie gekommen, um ihre Schule für den Besuch zu öffnen. Es ist ihnen "ein Herzensanliegen, dass die Einheitsschule in Deutschland noch mehr unterstützt wird", sagt Giese. Wenn alle Kinder unabhängig von Herkunft und Lerngeschwindigkeit gemeinsam lernten, kämen sie besser voran als in homogenen Gruppen. Gerade erst habe eine wissenschaftliche Begleitforschung wieder gezeigt: Gemeinsames Lernen entkoppelt den Lernerfolg von der sozialen Herkunft; Schüler mit Lernschwächen sind etwa ein Schuljahr schneller als in separierten Schulen, auch Lernstarke schneiden tendenziell besser ab.

Allerdings: Solange Kinder aus bildungsnahen Familien immer noch lieber auf Gymnasien geschickt werden, Gesamtschulen dagegen viel mehr Kinder mit Migrationshintergrund, mit sozialpädagogischem Förderbedarf und mit Lernmittelbefreiung aufnehmen müssten, drohe auch das Modell Einheitsschule an seine Grenzen zu kommen. "Eine inklusive Schule mit exklusiver Schulform funktioniert nicht", sagt Giese. 

"Jeder Mensch entwickelt sich unterschiedlich."

 

Kleine Bücher wandern rum, Projektergebnisse zum Thema Feuer und ein Geschichtenbuch über ein Flüchtlingskind. Es sind solche anderen Zugänge, mit denen die Pädagoginnen und Pädagogen an der Fritz-Karsen-Schule ihre Schüler erreichen. Zentral dabei ist das eigenständige Arbeiten. Gerne lässt Schulleiter Giese seine Klassen beispielsweise Themen aus komplexen Texten in andere Formen übersetzen. Ein Text erläutert das Atommodell, die Schüler schildern es als Märchen, als "Wer wird Millionär"-Quiz, als Krimi, als Partyspiel auf dem Schulhof. "So vergessen sie das Atommodell nie mehr."

Dass nicht nur Frontalunterricht passé ist an der Gesamtschule, zeigt der Schulleiter in einem Methoden-Chart: Da gibt es Lernentwicklungsgespräche, in denen Eltern und Schüler Erwartungen an die Lehrer äußern, und einen Klassenrat, in dem Schüler die Lehrer drannehmen statt umgekehrt; da gibt es Sozialtraining und Lernlogbücher, Methodentraining, jahrgangsübergreifendes Lernen und natürlich Inklusion. Die Fritz-Karsen-Schule verzichtet auf äußere Differenzierung und Sitzenbleiben und hat die Idee "Klassenziel erreicht" längst als Mythos entlarvt. Giese betont: "Jeder Mensch entwickelt sich unterschiedlich."

Womit die Umsetzung dieser Idee in der Praxis zu kämpfen hat, wird beim Kleingruppenrundgang auf dem Schulgelände sichtbar. Hausmeister Detlef Bading, jahrelang Elternsprecher der Schule, führt zu einem Nebengebäude auf dem Gelände des Schlosses Britz. "Die Außentoiletten sind meist schon 30 Minuten nach Schulbeginn schlimm verschmutzt", sagt er. "Für Reinigungspersonal hat der Bezirk immer weniger Geld." Innentoiletten sind für 2018 geplant. Die Klassenzimmer strahlen 50er-Jahre-Charme aus, eng, düster, vollgestellt. Die Möbel braun und abgestoßen, über den hellbraunen Wänden hängt ein Schmutzschleier. Tepe schüttelt den Kopf. "Würde man gerne in so einem Raum lernen? Das ist doch fernab unserer Lebenswelt im Jahr 2017." 

Immerhin gibt es ein kleines Zimmer nebenan, nutzbar für Teilungsunterricht. Und Eltern und Schule konnten mithilfe von Kuchenverkäufen und dem Auftritt des Bundespolizeiorchesters einen neuen Boden finanzieren. Inzwischen stellt die rot-rot-grüne Landesregierung mehr Mittel zur Verfügung. Nur: "Den Firmen fehlt oft das Personal, um Renovierungs-Aufträge annehmen zu können", sagt Bading. Personal ist auch bei den Lehrkräften knapp. Die Folge: Klassengrößen werden hoch gesetzt. Statt 24 lernen jetzt 26 Kinder jahrgangsübergreifend im engen Klassenzimmer, statt 4 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind es nun 8.

"Die Sanierung ist überfällig."

 

Wie stark der Sanierungsbedarf der Schule ist, offenbart sich im Hauptgebäude der Mittelstufe. In der Jungentoilette riecht es beißend nach Ammoniak, viele Fliesen haben sich von den Wänden gelöst und geben den Blick auf den Mörtel frei. Die Waschbecken sind braun, verkalkt, verschmutzt. Die Duschen an der alten Sporthalle sind defekt. Weil hier niemand mehr duschen mag, fehlt der reinigende Durchlauf in den Rohren. "Die Sanierung ist überfällig", sagt Bading. Doch die öffentliche Hand kommt nicht nach. Gerade erst wurde der Sportplatz, für 2006 versprochen, fertiggestellt. Entstanden ist eine Hightech-Landschaft mit Tartanbahn und Fußballplatz mit automatischer Bewässerungsanlage. Doch für einen Sportwart, der die Anlage pflegt, reichte es nicht mehr. So wird das Ganze kaum lange in Schuss bleiben, sagt Bading. 

Es ist dabei längst nicht nur der Sanierungsstau in Höhe von etwa 18 Millionen Euro, der dem Team an der Fritz-Karsen-Schule zu schaffen macht. Es sind auch die pädagogischen Herausforderungen, die sich seit 2006 vervielfacht haben. Damals gab es kein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Schule, heute sind es mehr als 100, 10 Prozent aller Schüler. Es fehlt an barrierefreien Räumen, zweiten Rettungswegen, Pflegeräumen, Schulpsychologen, Sozial- und Sonderpädagogen. Auch wenn die Fritz-Karsen Schule mit 12 Sonderpädagogen vergleichsweise gut ausgestattet ist - für die 1.250 Schülerinnen und Schüler reicht das lange nicht. Und wie sollten die Lehrkräfte erfolgreich den Alltag mit Inklusion und selbstgesteuertem, jahrgangsübergreifendem Lernen (jül) bewältigen, wenn sie weder in der Ausbildung noch in Weiterbildungen darauf vorbereitet würden, kritisiert Tepe. "Bis eine Neuerung in der universitären Hochschulbildung die Schule erreicht hat, dauert es etwa sieben Jahre."

"Dass eine Schule in so einem grottigen Zustand ist, ist eines reichen Landes nicht würdig."

 

Da bleibt nur: sich irgendwie selbst durchwurschteln. Wie die beiden Lehrerinnen der Klasse jül 4 bis 6 im ersten Stock. Gerade bereiten sie ihre Unterlagen für das nächste Schuljahr vor. Die Tische im Klassenzimmer sind eng zusammengeschoben. Auf die freie Fläche haben die Pädagoginnen ein halbes Dutzend kunstlederbezogene weiße Sitzboxen gestellt - für die gemeinsamen Austauschrunden im Kreis, die so wichtig sind im Prozess des selbstgesteuerten Lernen. "Die Boxen hat die Schule gestellt?" fragt Tepe. Die Lehrerinnen schütteln die Köpfe. "Es war kein Geld da, also haben wir sie selbst gekauft."

Abschlussrunde: "Könnt ihr euch vorstellen, dass eure Kollegen ihre Materialien selbst mit an den Arbeitsplatz bringen müssten?" fragt Tepe. "Absurd", sagt DGB-Chef Hoffmann. "Dass eine Schule in so einem grottigen Zustand ist, ist eines reichen Landes nicht würdig." Umso bewegender für alle, mit welchem Engagement und welcher Überzeugungskraft das knapp 180-köpfige Team von Schulleiter Giese dort seinen Alltag meistert. Mit Erfolg. 40 bis 65 Prozent eines Jahrgangs schaffen den Sprung in die Oberstufe. "Status, Herkunft, Lerngeschwindigkeit, das spielt an der Fritz-Karsen keine Rolle", sagt Schülersprecher Leon Vasic. "Wir lernen gemeinsam, wir sind eine Gemeinschaft. Und ich bin sehr, sehr glücklich, dass ich auf dieser Schule bin." Vor der Tür wartet der Bus. Weiter geht's. In die Welt der Beleuchtungsfabrik Osram in Spandau.

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