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„Dicke Bretter für die Pflege bohren“

GEW-Vorstandsmitglied Frauke Gützkow, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik, will dafür kämpfen, das Pflegesystem in Deutschland weiter zu entwickeln. Ziel müsse es sein, die Potenziale älterer Menschen stärker für die Gesellschaft zu nutzen und für ihre Angehörigen bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, sagte Frauke Gützkow auf dem GEW Seniorinnen- und Seniorentag am Dienstag in Leipzig.

Gützkow kündigte an, sich in den kommenden Jahren für Lohnersatzleistungen für pflegende Angehörige ähnlich wie dem Elterngeld einzusetzen. Darüber hinaus gehe es um die Anerkennung von Pflegeleistungen Älterer in der Rente. Zum fünften Seniorinnen- und Seniorentag unter dem Motto „Alles, was ältere stark macht“ waren rund 120 Gäste sowie namhafte Rednerinnen und Redner zusammen gekommen, um aktuelle politische Fragen von der Mitbestimmung und Teilhabe bis zur Ausgestaltung der Pflegeversicherung zu diskutieren.

Vollzeitschulische Ausbildungen müssen kostenlos sein

Das für Frauen- und Seniorenpolitik verantwortliche GEW-Vorstandsmitglied betonte, auch Arbeitsbedingungen müssten für pflegende Angehörige so gestaltet werden, dass Pflege-Arrangements zwischen Familie, Nachbarschaft, ambulanten und teilstationären Diensten künftig möglich sind. Darüber könne auch in der künftigen Tarifgestaltung nachgedacht werden. „Mit den jüngsten Pflegezeitgesetzen sind zwar große Schritte getan worden. Aber pflegende Angehörige sind noch keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Gerade bei Arbeitgebern sind noch dicke Bretter zu bohren“, sagte Frauke Gützkow. Um auch die qualifizierte, professionelle Pflege weiter zu unterstützen und auszubauen, müsse dafür gesorgt werden, dass vollzeitschulische Ausbildungen künftig bundesweit kostenlos sind.

Gützkow diskutierte mit der Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO), Professorin Ursula Lehr, und dem Vorstandsvorsitzenden des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), Dr. Jürgen Gohde über die Zukunft der Pflege. Gohde kritisierte, dass die Pflege noch nicht als gesellschaftspolitisches Zukunftsthema diskutiert werde. „Wir brauchen eine Umorientierung und Visionen.“ Die umfassenden Erkenntnisse der Politik etwa über Familie, Senioren, Jugend und Gleichstellung müssten besser zusammengeführt werden. Ursula Lehr widersprach zudem der weit verbreiteten These vom Generationenkonflikt in der Gesellschaft. Sie habe den Eindruck, dieser werde von der Politik eher herbeigeredet. In den Familien sei der Konflikt zwischen den Generationen früher wesentlich stärker ausgetragen worden als heute.

Renten werden abgekoppelt

Dirk Neumann, DGB-Experte für Alterssicherung und Seniorenpolitik, kritisierte zugleich massiv die „Renten-Kürzungsorgien“ der vergangenen 15 Jahre, verursacht durch Einschnitte von der Einführung der Riester-Rente bis zur Rente mit 67. „Die Renten werden von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt, das Rentenniveau wird deutlich reduziert“, so Neumann. „Vom Jahr 2000 bis 2030 sinken die Leistungen der Rentenkasse um bis zu 30 Prozent.“ Die permanente alten- und frauenfeindliche Debatte um den demographischen Wandel und den Generationenkonflikt lenkte nur vom wahren gesellschaftlichen Konflikt ab: Der ungerechten Verteilung des Wohlstands und dem Zurückdrängen des Sozialstaates.

Der DGB und seine Einzelgewerkschaften fordern stattdessen eine Reihe individueller und sozial abgesicherter Maßnahmen: flexiblere Möglichkeiten zur Altersteilzeit und eine neue Förderung der Bundesagentur für Arbeit, Teilrenten bereits ab 60 Jahren und mehr Hinzuverdienstmöglichkeiten, bessere Chancen zur freiwilligen Aufstockung der Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung, das „Altersflexi-Geld“ als neue Art des Kurzarbeitergeldes für Menschen zwischen 58 und 63 Jahren. Die Rente mit 67 sei zurückzunehmen, weil sie unrealistisch sei, so Neumann. „Nur 48 Prozent der Erzieher und Lehrer sehen sich in der Lage, diese Regelaltersgrenze in Arbeit zu erreichen.“ Der DGB verfolgt zugleich den Aufbau einer Rentenkasse für alle Erwerbstätigen, in die auch Beamte, Freiberufler und Politiker einzahlen. „Wenn es nicht gelingt, einen spürbaren Abstand zwischen Rente und Grundsicherung beizubehalten, wird es harte gesellschaftliche Debatten um die Altersvorsorge geben“, warnte Neumann.

Allerdings bestimmten bis heute ungleiche Bedingungen von Frauen und Männern das Leben bis ins hohe Alter, machte die Leiterin des Lehrstuhls für Privathaushalt und Familienwissenschaft der Universität Gießen, Professorin Uta Meier-Gräwe, deutlich. „Die Familie des Mannes ist nicht die Familie der Frau.“ Wenn sich junge Mütter für eine längere Fürsorge in der Familie entscheiden und auf Erwerbstätigkeit verzichten, wirke sich dies bis zur Rente aus und kumuliere bis hin zur Altersarmut. „Zwei Drittel der erwerbstätigen Frauen in Deutschland verdienen zu wenig, um mit ihrem eigenen Einkommen langfristig ihre Existenz zu sichern“, sagte Meier-Gräwe. Beispielrechnung: Frauen, die ab ihrem 35. Lebensjahr einen 400-Euro-Job ausüben bis sie im Jahr 2045 in Rente gehen, erwerben derzeit einen Rentenanspruch von gerade einmal 142 Euro.

Weibliches Potenzial wird nicht genutzt

Die gesellschaftspolitischen Widersprüche seien teilweise erschreckend, machte Uta Meier-Gräwe deutlich. Zwar seien Frauen heute besser ausgebildet als je zuvor – aber das Potential werde nicht genutzt: Nur 25 Prozent aller studierten Medizinerinnen seien berufstätig. Auch der Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen – etwa durch das Elterngeld und den Ausbau der vorschulischen Erziehung – stehe nicht im gleichen Maß eine berufliche Beschäftigung gegenüber. Besonders fatal sei der Irrtum, dass nur Handwerk und Industrie Werte schaffen – Dienstleistungen aber Werte verschlingen. Dieses „Killerargument“ sei ein ökonomischer Blindflug – und gehe zu Lasten von Frauen, die in schlechter bezahlten Berufen arbeiten.

Bereits zum Auftakt des GEW Seniorinnen- und Seniorentages am Montag hatte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe die Bedeutung der Älteren für die Gewerkschaftsarbeit unterstrichen. „Die Erfahrungen der Seniorinnen und Senioren dürfen nicht verloren gehen“, betonte Tepe.

Die Vorträge und die Podiumsdiskussion stehen in Kürze auf der GEW Website als Videostream zur Verfügung.

Text: Sven Heitkamp
Fotos: Anne Jenter