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Dialog

„Freiwilligenarbeit ist die Goldkante“

Bei der Versorgung älterer Menschen in Deutschland spielt Freiwilligenarbeit eine wachsende Rolle. Ein Gespräch mit den Alternsforschenden Prof. Hildegard Theobald und Prof. Stefan Sell.

Foto: Pixabay / CC0
  • Dialog: Freiwillige engagieren sich in Deutschland in der Versorgung älterer Menschen, in der Pflege. Nutzt der Staat das Ehrenamt als Sparmodell oder ist die Freiwilligenarbeit eine sinnvolle Ergänzung?

Prof. Hildegard Theobald: Ich sehe beides. Einerseits unterstützen Ehrenamtliche, oft ältere Frauen, andere. Das hat in Deutschland Tradition, Ehrenamt war immer Teil des Hilfssystems. Andererseits nutzt der Staat seit etwa 20 Jahren das Ehrenamt verstärkt, um Dienstleistungen anzubieten, für die er sonst viel Geld bezahlen müsste – ein Sparmodell. Die „niedrigschwelligen Betreuungsangebote“ zum Beispiel wurden damals etabliert, um Demenzerkrankte im Alltag zu unterstützen und Angehörige zu entlasten. Bis heute machen das oft bezahlte Freiwillige. Sie kommen stundenweise nach Hause oder betreuen Gruppen drei, vier Stunden am Tag. Das ist hochproblematisch.

Prof. Stefan Sell: Ja, denn so ein Sparmodell stabilisiert die strukturelle Asymmetrie der Professionen im Sozial- und Bildungsbereich. Freiwilligenarbeit wird schon lange faktisch instrumentalisiert, um Löhne zu drücken und Professionalität auszuhöhlen. Im Zweifelsfall übernimmt die freie Wohlfahrtspflege. Diakonie, Caritas & Co. wurden beauftragt, um Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen zu übernehmen. Das ist für den Staat kostengünstiger, weil diese Einrichtungen auch mit Ehrenamtlichen arbeiten.

Theobald: Hinzu kommt: Heute sind mehr Frauen erwerbstätig, sie stehen nicht mehr so umfassend zur Verfügung für die Pflege ihrer Eltern wie früher. Also sollen Nachbarschaften und fitte Ältere den Wohlfahrtsstaat unterstützen. So zieht das Konzept der „Sorgenden Gemeinschaft“ die Nachbarschaften heran. In den Kommunen werden lokale Gemeinschaften aufgebaut, die sich mit um die älteren Mitglieder kümmern sollen. Das schafft Zusammenhalt, hilft gegen Einsamkeit. Aber oft geht es zu weit, weil professionelle Aufgaben in freiwillige Hände gelegt werden.

  • Dialog: Kommt unser System zunehmend in Schieflage, Herr Sell?

Sell: Dafür gibt es Anhaltspunkte. Nehmen wir die Entwicklung der Lebensmittel-Tafeln. Sie wurden Anfang der 1990er-Jahre aus der Umweltbewegung heraus gegründet, um Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen. Schleichend wurde daraus eine neue Form der Armenversorgung. Heute ist sie de facto ein zentraler Baustein, um existenziellen Bedarf zu decken. Aber es gibt dafür keine sozialstaatliche Garantie. Man muss Glück haben, dass eine Ausgabestelle um die Ecke ist. Sogar die Jobcenter schicken die Leute zur Tafel, das ist eine übergriffige Funktionalisierung. Es stürzt auch die Ehrenamtlichen in Dilemmata, sie sollen plötzlich die Grundversorgung der Bedürftigen übernehmen, darunter zunehmend ältere Menschen ...

  • Dialog: … die Nachfrage ist stetig gestiegen …

Sell: … ja, aber die Tafeln bekommen gleichzeitig nicht mehr genug Lebensmittel von den Discountern, auch weil deren Mengenplanung immer besser wird. Gefährlich wird es, wenn der Staat den Tafeln Zuschüsse zahlt. Da entstehen für die öffentliche Hand überaus billige, aber überforderte Versorgungsmodelle. Zu Recht lehnen einige Tafeln ab, sie wollen sich nicht kaufen lassen. Denn dann kann der Staat immer sagen: Wir fördern euch doch, jetzt müsst ihr liefern. Andere Tafeln sagen: Wir müssen zugreifen, sonst können wir unsere Arbeit nicht mehr stemmen – und geben ihren Wesenskern auf. Dabei sind die Tafeln super, wenn man sie als zusätzliche Leistung bewahren würde.

  • Dialog: Schauen wir ins Ausland: Frau Theobald, Sie haben sich das schwedische System angesehen. Was macht das Land anders als die Bundesrepublik?

Theobald: Der große Unterschied ist: In Deutschland war Ehrenamt schon immer Teil der Wohlfahrtspflege, in Schweden ist der Staat für die Versorgung Älterer verantwortlich. In jüngerer Zeit wird zwar auch Freiwilligenarbeit stärker einbezogen. Aber die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die dafür zuständig sind, arbeiten sehr unabhängig und bestimmen selbst, was sie machen – und was nicht. Sie sagen, die Grundversorgung geht uns nichts an, wir setzen die Goldkante drauf: Jemanden besuchen, soziale Aktivitäten organisieren, für Wohlbefinden sorgen. Einige Aufgaben wurden staatlich subventionierten privaten Firmen übergeben, die beispielsweise Haushaltsdienstleistungen anbieten. Hinter dem schwedischen Modell steht die Idee, sich gegenseitig zu helfen. Es soll keine Hierarchie zwischen bedürftigen Älteren und Freiwilligen entstehen. Die jüngeren Alten helfen den Älteren und wenn sie selbst mal alt sind, rücken die nächsten nach.

  • Dialog: Was können wir von Schweden lernen?

Theobald: Wie wichtig staatliche Verantwortung ist, Freiwilligenarbeit ein Zusatzangebot sein muss und wir die Arbeit auf viele Schultern verteilen sollten. Wenn Dienste mehr übernehmen als bei uns, reduziert sich der Aufwand für die Versorgung durch Familie und Freunde. Fünf Stunden Versorgung pro Tag kann kein voll Erwerbstätiger schaffen – ein, zwei Stunden aber schon. In Skandinavien machen daher viel mehr Männer bei der Versorgung Älterer mit. Das reduziert die Belastung und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.

Sell: Dennoch wird es extrem schwierig, die Versorgung Älterer gewuppt zu bekommen, weil unsere Gesellschaften dramatisch überaltern. So viele Fachkräfte haben wir einfach nicht. Daher müssen wir auf einen Mix setzen: professionelle Versorgung stabilisieren, ausbauen und vor Deprofessionialisierung schützen; Freiwilligenarbeit stärker aktivieren, wenn familiäre Unterstützung fehlt; die Älteren zur Selbsthilfe ermutigen und unterstützen, sich selbst zu organisieren. In Wohngemeinschaften etwa. Wir brauchen eine Kommunalisierung der Altenhilfe. Nur vor Ort lassen sich tragfähige Lösungen finden.

Theobald: Ja, mehr gemeinschaftliche Versorgungsformen sind wichtig, sie müssen Teil des staatlichen Regelangebots sein. Eine 24-Stunden-Betreuung Pflegebedürftiger ist auf Dauer in großem Stil gar nicht machbar. Dafür braucht man zwei, drei Betreuungskräfte pro Person. Wenn aber beispielsweise sechs Menschen zusammenwohnen, reicht eine Betreuung für die Nacht.

Sell: Ich sehe dazu auch keine Alternative. Woher sollen die Betreuungskräfte kommen? In Osteuropa haben die ja selbst keine Leute mehr. Wir müssen unbedingt verhindern, dass es nun wieder zu Wildwuchs und Ausbeutung kommt wie bei der 24-Stunden-Betreuung.

  • Dialog: Wie kann das konkret aussehen?

Sell: Die Kommunen fühlen sich jetzt schon durch eine Flut an Aufgaben überfordert. Sie brauchen einen gesetzlichen Auftrag. Ohne den machen wir nichts, sagen mir Landräte oft. Diesen Auftrag müssen Bund und Länder geben. Vorschläge hat der 7. Altenbericht schon 2016 gemacht. Altenhilfe als Pflichtaufgabe im Sozialgesetzbuch XII festschreiben etwa und ein kommunales Basisbudget für gemeinwesenorientierte Seniorenarbeit festlegen. Das wäre ein Anfang.

Theobald: Wir müssten auch stärker in den Markt ein-greifen. Laut Pflegeversicherung soll die grundlegende pflegerische Versorgung durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden und nicht durch eine Sozialplanung der Kommunen. Anbieter können daher in einer Gemeinde so viele Pflegeheime bauen, wie sie wollen. Die Kommune darf das nicht verbieten. Eine kommunale Gestaltung der Infrastruktur ist so kaum möglich. 

In Schweden ist die Grundversorgung Staatsaufgabe, die Freiwilligen sorgen darüber hinaus für mehr Wohlbefinden der älteren Menschen. Unabhängig, selbstorganisiert, ohne finanzielle oder organisatorische Verstrickung in das staatliche Hilfssystem. In Schweden ist klar: Ehren-amtliches Engagement darf kein Notnagel für Lücken in der staatlichen Versorgung sein. Hierzulande sollte das ebenso selbstverständlich sein.

Zu Recht setzt sich der Bundessenior*innenausschuss (BSA) seit Jahren für eine kritische Debatte des Ehrenamtes ein. Freiwilligenarbeit ist ungeheuer wertvoll für die Gesellschaft, aber sie muss klug umgesetzt werden. Auf Initiative des BSA hat die GEW Standards für ehrenamtliche Arbeit festgelegt*, die deutlich machen, dass Freiwillige auch Rechte haben gegenüber den Organisationen, in denen sie mit anpacken. Das Recht auf eine gute Einarbeitung, auf Weiterbildung, auf Mitsprache etwa. Sie entscheiden selbst, wie und wieviel sie sich engagieren wollen.

Dann ist ehrenamtliche Arbeit ein Weg zu mehr Lebensqualität für die, die betreut werden, und für die, die sich für andere engagieren. Als Gewerkschaft ist es unsere Aufgabe, den richtigen Rahmen dafür zu setzen und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung im Blick zu haben. Damit ehrenamtliches Engagement nicht schleichend ein Modell stabilisiert, das die professionelle, staatliche Grundversorgung älterer Menschen aushöhlt – auf Kosten aller.

Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik

 

Lust auf Zukunft – was ich neu entdeckt habe

Marliese Seiler-Beck, 75, Realschullehrerin, Berlin-Neukölln, seit 2014 im Ruhestand

Ich war immer gerne Lehrerin und habe gegen die Vorurteile gegenüber meinen Schülerinnen und Schülern aus Neukölln gekämpft. 85 Prozent der Jugendlichen in meiner letzten Klasse lebten von Transferleistungen und doch haben alle die Schule mit einem Abschluss verlassen. Man muss ihnen nur etwas zutrauen und sie unterstützen. In der GEW bin ich für die Einführung der Gemeinschaftsschule eingetreten, auch noch die ersten sechs Jahre im Ruhestand. Seit 2020 bin ich raus, ich war einfach nicht mehr nah genug dran.

Erstaunlich war das schon im Ruhestand: Keine Sekunde habe ich mein Lehrerinnendasein vermisst. Aber den Alltag selbst zu gestalten, musste ich richtig üben. Zwei Jahre hat es gedauert, bis der Druck weg war. Bis heute habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich um 7 Uhr aufstehe – statt um 5.30 Uhr. Einige Jahre lang habe ich zwei Schülerinnen beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstützt und mit einer afghanischen jungen Frau bis zum Abschluss der Ausbildung gelernt.

Lust auf Zukunft? Und wie. Lesen, mehr Radfahren, mal nach Großbritannien, Skandinavien oder New York reisen. Die Zeit mit meinem acht Monate alten Enkel genießen. Aber erstmal macht mir die Gegenwart Freude. Wie heute Morgen, als ich aus meinem Fenster in den Park geschaut habe; die Sonne glitzerte in den unglaublich bunten Blättern eines Baumes auf der Wiese. Dann freue ich mich einfach. Ich genieße es, nichts vorhaben zu müssen. Menschenfreie Tage ab und an sind herrlich. Dann ist wieder viel los: Feldenkrais-Seminare und Fitnessstudio, Doppelkopf- und Literaturgruppe. Und endlich, endlich spiele ich wieder Klavier. Musik hat mir so sehr gefehlt in meinem Berufsleben, nie war Zeit dafür. Ich liebe es, Musik zu hören, die Augen zu schließen – schon bin ich in einer anderen Welt.“