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Zeugnisverweigerungsrecht (ZVR) in der Sozialen Arbeit

Mit einem Bein im Gefängnis

In Karlsruhe wären Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, die Fußballfans betreuen, fast in Beugehaft gelandet. Der Fall verweist auf eine Leerstelle in der Gesetzgebung: Es gibt weiter kein generelles Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit.

In den deutschen Fußballstadien setzten sich in den zurückliegenden Monaten Fans wie hier auf Schalke für das Zeugnisverweigerungsprojekt in der Sozialen Arbeit ein. (Foto: IMAGO/RHR-Foto)

Für Sophia Gerschel, Sebastian Staneker und Volker Körenzig war der 6. Oktober 2023 ein Tag der Freude – bei aller Wut, die dann doch nicht so schnell verschwinden wollte. Damals erfuhren die drei Mitarbeitenden des Karlsruher Fanprojekts, dass sie nicht in Beugehaft müssen – im schlimmsten Fall hätten ihnen sechs Monate Gefängnis gedroht. „Das hat schon einen immensen Druck von uns genommen“, sagt Diplom-Soziologin Gerschel. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen, dass Sozialarbeitende ins Gefängnis müssen, weil sie bei der Ausübung ihres Berufes ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten sind. Bundesweit protestierten viele Fanszenen gegen das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, auch zahlreiche Juristen äußerten sich kritisch. Derzeit prüft die Staatsanwaltschaft, ob sie ein Verfahren wegen Strafvereitelung einleitet. Ausgestanden ist die Angelegenheit für die drei also längst noch nicht.

Dabei wäre das alles nicht passiert, wenn auch Fan-Sozialarbeiterinnen und -arbeiter das ZVR hätten, das beispielsweise Juristen, Journalisten und Pfarrer besitzen. In der Sozialen Arbeit steht dieses Recht bislang nur Beschäftigten in der Drogenhilfe und der Schwangerschaftsberatung zu.

Fanprojekte brauchen vertrauensvolles Verhältnis zu Fans

Anlass der Ermittlungen waren die Geschehnisse beim Heimspiel des Karlsruher SC gegen St. Pauli im November 2022. Damals hatte eine Karlsruher Ultragruppe so massiv Pyrotechnik gezündet, dass danach elf Menschen über Atembeschwerden klagten. Die Ultras zeigten sich allerdings einsichtig und nahmen unter Vermittlung des Fanprojekts an einem Ausgleichsgespräch mit den Opfern teil, von denen später niemand Anzeige erstattete. Als die Staatsanwaltschaft wegen „Freisetzen von Giftstoffen“ ermittelte – ein juristischer Kniff, um wegen eines Straftatbestandes statt einer Ordnungswidrigkeit tätig werden zu können – war die Sache intern also längst geklärt.

Dennoch folgten Razzien. Anhand der konfiszierten Handys ließ sich der Kontakt der Fans zu den Fan-Sozialarbeiterinnen und -arbeitern nachweisen, die daraufhin ins Visier der Justiz gerieten. Doch die drei, die lediglich ihre in der Jobbeschreibung definierten Aufgaben erfüllt hatten, sagten nicht aus. Hätten sie das ZVR, hätte sich die Staatsanwaltschaft damit begnügen müssen. So aber behielt sie sich vor, Beugehaft zu beantragen und klagte die drei unter dem Vorwurf der „Strafvereitelung“ als Beschuldigte an, statt sie lediglich als Zeugen zu vernehmen.

Für ihre Position als Mittler zwischen Fans, Verein und Polizei seien allerdings ohnehin schon die Vorladungen schwierig gewesen, berichtet Gerschel, da Fans sicher sein müssten, einen vertrauensvollen Rahmen angeboten zu bekommen. Wenn die Jugendlichen sich abwendeten, weil sie davon ausgehen müssten, dass die Polizei Informationen abgreift, sei „der Kernbestand unserer Arbeit bedroht“.

Reform des Paragrafen 53 der Strafprozessordnung nötig

Um so etwas künftig zu verhindern, hatte sich bereits 2014 ein Arbeitskreis gegründet, aus dem das „Bündnis für ein ZVR in der Sozialen Arbeit“ (BfZ) als Zusammenschluss mehrerer Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit hervorging. Nach den Ereignissen von Karlsruhe zeigt sich das Bündnis empört: „Das besondere Vertrauen, welches eine gelingende Soziale Arbeit überhaupt erst ermöglicht, durch das Brechen der Schweigepflicht zu zerstören, hat weitreichende Auswirkungen“, heißt es in einer Stellungnahme. Derzeit könnten „Fachkräfte ihrem Auftrag nicht nachkommen, ohne ihre Freiheit zu riskieren“.

Warum das ZVR nur in zwei Feldern der Sozialen Arbeit gilt, erschließt sich in der Tat kaum einem Praktiker. Zumal Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen seit 1983 der strafrechtlichen Schweigepflicht unterliegen. Offenbar hält also auch der Gesetzgeber ein geschütztes Vertrauensverhältnis für ein hohes Gut. Den zweiten und nach Meinung vieler Fachleute einzig logischen Schritt, das ZVR auf die gesamte Soziale Arbeit auszudehnen, ist die Politik allerdings noch nicht gegangen. Hierzu wäre eine Reform des Paragrafen 53 der Strafprozessordnung nötig.

Koalition will Bundesratsinitiative starten

Diese Reform wäre relativ leicht herbeizuführen: mit einer einfachen Mehrheit im Bundestag. Valentin Lippmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Sächsischen Landtag, hat das Thema schon vor zwei Jahren auf die Agenda gesetzt. Die Koalition aus CDU, FDP und Grünen will nun eine Bundesratsinitiative starten. Überhaupt scheint es, als sei auf der politischen Ebene endlich Bewegung in den festgefahrenen Prozess gekommen. Bei einer Podiumsdiskussion im Oktober 2022 in Berlin hatten Fachpolitiker der drei Ampel-Parteien betont, dass sie die Gesetzeslage zugunsten der Sozialen Arbeit ändern wollten. Sie hatten allerdings auch durchblicken lassen, dass das Thema von der politischen Großwetterlage überschattet werde, weshalb es wohl erst in der kommenden Legislaturperiode angegangen werden könne.

Daniel Melchien, der als Geschäftsführer des Karlsruher Stadtjugendausschusses der Vorgesetzte der drei Fanprojekt-Mitarbeitenden ist, will das nicht akzeptieren. Es sei nicht hinzunehmen, dass sich Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, die fachlich alles richtig machen, auf juristisches Glatteis begeben. „Wenn sie seriös arbeiten, dürfen wir sie nicht ins offene Messer laufen lassen.“ Zumindest die Ampel-Vertreter aus Karlsruhe weiß Melchien an seiner Seite: „Und ich habe auch den Eindruck, dass sich in Berlin etwas tut.“ Auf vielen Ebenen liefen Gespräche. „Das könnte jetzt alles sehr schnell gehen, wenn die Fraktionen das Thema ins parlamentarische Verfahren einspeisen.“ Dies sei dringend geboten – nicht nur wegen der schlimmen Erfahrungen, die seine Kollegin und Kollegen beim Fanprojekt machen mussten: Sozialarbeit werde in vielerlei Bereichen dringender denn je gebraucht. „Rechtssicherheit ist da das Allermindeste, was der Staat herstellen muss.“