Die 4. Klasse der Grundschule Süd-West im hessischen Eschborn ist auf Zeitreise mit dem Piratenschiff „Tempus“. Die Playmobil-Yacht soll den Kindern helfen, Sätze vom Präsens ins Präteritum umzuwandeln. Das klappt nicht immer auf Anhieb. Paul (Name geändert) und zwei andere Kinder grübeln über die Vergangenheitsform von „nehmen“. Heißt es „ich nehmte“ oder „ich nahmte“? Schließlich finden die drei die richtige Form, und Paul liest vor: „Ich nahm einen Stein.“
Paul leidet unter frühkindlichem Autismus. Dass er einmal flüssig lesen würde, war bei seiner Einschulung nicht abzusehen. „Anfangs konnten wir ihn kaum verstehen, wenn er sprach“, sagt seine Klassenlehrerin. Paul wurde – wie viele Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung – dem Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ zugeordnet. Eine Teilhabeassistentin begleitet ihn im Unterricht und in den Pausen. Der Junge braucht eine ruhige Atmosphäre und klare Abläufe. Darauf hat sich seine Lehrerin eingestellt. Und Paul auf sie und seine Mitschüler.
Bevor Paul eingeschult wurde, bildete sich die Klassenlehrerin fort. Heute, nach fast vier Jahren, sagt sie: „Seine Entwicklung ist beeindruckend.“ Zur Wahrheit dieser Erfolgsgeschichte gehört aber auch, dass die Schule jahrelange Erfahrung mit Integration, Inklusion und Schülern wie Paul hat. Er ist nicht das erste autistische Kind. Vor ihm gab es andere, zum Teil deutlich schwierigere Schülerinnen und Schüler. Die inklusiv arbeitende Schule hat sich zum Ziel gesetzt, alle Kinder aus ihrem Bezirk aufzunehmen – ohne Ausnahmen.
Außerdem sind Lehrkräfte keine Therapeuten. Sie brauchen professionelle Unterstützung, um Kinder mit Autismus zu unterrichten.
„Wir hatten eine Schülerin, die anfangs fast nur geschrien hat“, erinnert sich Schulleiter Hajo Rother. Dennoch gelang es den Lehrkräften in enger Zusammenarbeit mit Therapeuten, Eltern, Assistenten sowie anderen Expertinnen und Experten, das Kind gemeinsam mit den anderen zu unterrichten. „Wir fanden zum Beispiel heraus, dass sich das Mädchen beruhigt, wenn es in einer Hängematte schaukelt. Also haben wir Hängematten aufgebaut.“
Solche Positiv-Berichte hört man aus Regelklassen im Primarbereich immer wieder. Doch beim Übergang zu den weiterführenden Schulen gibt es eine Sollbruchstelle, die viele Kinder mit besonderem Förderbedarf, Mädchen und Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung aber ganz besonders betrifft. Sie fallen durch alle Raster. Viele Pädagoginnen und Pädagogen kennen sich mit dem Krankheitsbild nicht aus und/oder die Ressourcen stimmen nicht, um die Kinder optimal zu fördern.
„Man kann Autisten nicht in Schubladen stecken, aber leider passiert genau das“, sagt der Psychologe und Erziehungswissenschaftler André Zimpel. Der Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg ist überzeugt davon, dass viele Autistinnen und Autisten gute Schulkarrieren machen könnten, wenn sich das Umfeld auf sie einstellt. Voraussetzung dafür seien eine gute Diagnostik, individuelle Lernbegleitung und die Möglichkeit für den Schüler, jederzeit den Klassenraum verlassen zu können, wenn ihn Lärm oder andere Sinneseindrücke überfordern. Allein Letzteres stellt viele Regelschulen vor große Probleme – wenn es zum Beispiel keine Räume für eine Auszeit gibt oder der Integrationshelfer fehlt. Außerdem sind Lehrkräfte keine Therapeuten. Sie brauchen professionelle Unterstützung, um Kinder mit Autismus zu unterrichten.
Jeder fünfte Schüler mit Autismus wurde schon einmal von der Schule ausgeschlossen, einige monatelang. Für mehr als die Hälfte gab es keine Ersatzschule – die Eltern sprangen als „Lehrer“ ein.
„Für Schüler mit Autismus ist es ganz wichtig, zu wissen: Da versteht jemand, wie ich denke“, sagt Zimpel. Regelschullehrkräfte brauchen seiner Ansicht nach neben der Hilfe durch Expertinnen und Experten wie Sonderpädagogen und Schulsozialarbeiter auch eigenes Wissen über Autismus. „Sie sollten zum Beispiel erkennen, welche Situationen zu Reizüberflutung führen“, sagt Zimpel. Wichtig sei auch, die Spezialinteressen des Schülers oder der Schülerin zu sehen und in den Unterricht einzubauen. „Es gibt hervorragend ausgebildete Sonderpädagogen, die hier unterstützen können“, sagt Zimpel – wohl wissend, dass in fast allen Bundesländern ein großer Mangel an den spezialisierten Lehrkräften herrscht.
Eltern, die Kinder mit Autismus durch die Schulzeit begleiten, sind oft verzweifelt. Der Bundesverband Autismus Deutschland befragte 2016 Mütter und Väter nach der schulischen Situation. Zwar war die Umfrage nicht repräsentativ, die Antworten haben den Bundesverband dennoch hellhörig werden lassen. Jeder fünfte Schüler mit Autismus wurde demnach schon einmal von der Schule ausgeschlossen, einige monatelang. Für mehr als die Hälfte gab es keine Ersatzschule – die Eltern sprangen als „Lehrer“ ein.
„Ein eigener Förderschwerpunkt ist unumgänglich – gerade vor dem Hintergrund der Inklusion“, lautet eine Forderung an die Kultusministerkonferenz.
Die Ursachen für einen Schulausschluss sind nach Angaben des Bundesverbands vielfältig. Grund sei häufig, dass der Integrationshelfer des Kindes ausfällt und Lehrkräfte sich mit der Situation allein überfordert fühlen. „Das pädagogisch-psychologische Fachwissen, um Schüler mit Autismus zu unterrichten, ist oft nicht da“, sagt Christian Frese, Geschäftsführer beim Bundesverband Autismus. Viele Pädagoginnen und Pädagogen glaubten, Kinder mit Autismus könnten ihr mitunter herausforderndes Verhalten steuern – das sei aber meist nicht der Fall. Sie vom Unterricht auszuschließen, sei keine Lösung – und auch nicht gerechtfertigt, da man ihnen ihr Verhalten nicht vorwerfen kann. Frese ist der Ansicht, dass die in den Schulgesetzen verankerten Ordnungsmaßnahmen wie Schulausschluss auf Schülerinnen und Schüler mit Autismus eigentlich gar nicht anwendbar sind. „Aber die Schulaufsichtsbehörden wissen oft nicht weiter und sehen nur diese Lösung.“ Das Hauptargument für den Ausschluss: Die Schule könne die Aufsichtspflicht nicht mehr gewährleisten.
Wie viele Autistinnen und Autisten an deutschen Schulen unterrichtet werden, ist unklar. Genaue Zahlen gibt es auch deshalb nicht, weil es in den meisten Bundesländern keinen eigenen Förderschwerpunkt „Autismus“ gibt. Viele Kinder werden unter den Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ subsumiert. Der Bundesverband hält das für falsch. „Ein eigener Förderschwerpunkt ist unumgänglich – gerade vor dem Hintergrund der Inklusion“, lautet eine Forderung an die Kultusministerkonferenz.
Der Eschborner Schulleiter Rother sieht darin keine Lösung: „Es gibt schon jetzt viel zu viele Schubladen, in die wir Kinder einsortieren.“ Pauls Klassenlehrerin sieht das ähnlich: „Es geht immer darum, ein Kind in all seinen Facetten kennenzulernen und zu fördern.“ Ein eigener Förderschwerpunkt „Autismus“ hätte der Schule da nicht geholfen. Entscheidend, sagt Rother, sei die Teamarbeit mit Förderschullehrkräften, Psychologen, Ergotherapeuten, Logopäden und Teilhabe-Assistenten: „Der ständige Austausch ist das Erfolgsrezept – und die Haltung der Schule, jedes Kind aufzunehmen.“