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Vorbereitungsklassen

Mehr als nur Deutschlernen

Sollen neu zugewanderte Kinder in separaten Klassen oder im Regelunterricht Deutsch lernen? Für beide Modelle gibt es gute Argumente. Die meisten Bundesländer verbinden beides miteinander.

Guiseppe Tartaro, Lehrer an der Ernst-Reuter-Gesamtschule II in Frankfurt / Foto: Christoph Boeckheler

Die Schülerinnen und Schüler der Intensivklasse haben eine Woche lang auf ihren Lehrer verzichten müssen. Giuseppe Tartaro, Pädagoge an der Ernst-Reuter-Gesamtschule II in Frankfurt am Main, war mit anderen Kindern auf Klassenfahrt. Jetzt, in der ersten Stunde nach seiner Reise, gibt es viel zu besprechen, auch Unangenehmes. Das letzte Diktat ist ziemlich schlecht ausgefallen. Tartaro ist selbst Kind von Einwanderern. Er hat Verständnis für die Sprachprobleme seiner Schüler. Trotzdem redet er jetzt Klartext: „Ihr wollt Deutsch lernen? Dann müsst ihr mehr dafür tun.“

16 Kinder sitzen in Tartaros Intensivklasse, so nennt man in Hessen die Vorbereitungsklassen für neu Zugewanderte. Der Jüngste ist neun, der älteste 15 Jahre alt. „Das ist eine große Herausforderung“, sagt Tartaro, der eine Zusatzausbildung in „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) hat. Damit meint er nicht nur die Altersunterschiede, sondern auch das unterschiedliche Sprachniveau und die innere Differenzierung im Unterricht. „Ein Schüler aus Spanien hat gar keine Deutschkenntnisse, er kam erst vor drei Wochen“, erzählt der 38-Jährige. Ein anderes Kind wurde in Frankfurt geboren, lebte dann einige Jahre im Herkunftsland der Eltern und kehrte schließlich zurück nach Hessen.

„Mein Ziel ist, dass die Kinder sich in die deutsche Gesellschaft integrieren können.“ (Giuseppe Tartaro)

Vor ein bis zwei Jahren saßen in Tartaros Klasse vor allem Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. Heute kommen die meisten Schülerinnen und Schüler aus Südosteuropa oder Asien. „Es gibt weniger Kinder, die durch die Flucht traumatisiert sind“, sagt der Sport- und Italienischlehrer. Seine Aufgabe ist dennoch nicht leichter geworden. „Mein Ziel ist, dass die Kinder sich in die deutsche Gesellschaft integrieren können. Es geht hier um sehr viel mehr als ‚nur‘ Deutschlernen.“

Maximal zwei Jahre können die Kinder und Jugendlichen in der Intensivklasse bleiben, bis sie in die Regelklasse wechseln. Vielen gelingt das aber schon früher. Die Ernst-Reuter-Schule arbeitet wie viele Schulen in Hessen mit einem teilintegrativen Modell, Tartaro nennt es „partielle Integration“. Das heißt: Die Schüler bleiben zwar in der Intensivklasse, können aber in einzelnen Fächern in die Regelklasse wechseln.

Ein gutes Modell? Tartaro tut sich schwer mit einem klaren Ja oder Nein. Eigentlich präferiert er die direkte Integration in die Regelklasse, anstatt Kinder in Extraklassen zu separieren. Er weiß aber auch, dass ein Einheitsmodell für alle nicht wirkt, sondern die Zugewanderten individuell zugeschnittene Lösungen brauchen. Deshalb versucht seine Schule, möglichst flexibel zu reagieren.

Mischung schulorganisatorischer Modelle

Wie Hessen setzen auch die meisten anderen Bundesländer weder ausschließlich auf separate Sprachförderung, noch auf ein hundertprozentiges inklusives Modell, bei dem deutschsprachige und zugewanderte Kinder von Anfang an gemeinsam lernen. Meistens findet sich eine Mischung schulorganisatorischer Modelle. Diese wiederum unterscheiden sich je nach Standort, Schulform und Alter der Kinder.

Zwar gibt es Bundesländer – etwa Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen –, die prinzipiell auf eine direkte Aufnahme neu zugewanderter Kinder in die Regelklassen setzen und dies mit zusätzlicher Sprachförderung begleiten. Was aber nicht heißt, dass es dort überhaupt keine separate Beschulung gibt. Für die meisten Bundesländer gilt: Je jünger Neuankömmlinge sind, desto eher lernen sie von Beginn an in der Regelklasse zusammen mit anderen. Bremen etwa arbeitet bei Grundschülerinnen und -schülern mit einem teilintegrativen Modell. Zugewanderte lernen in so genannten Vorkursen – in der Regel sechs Monate – Deutsch, nehmen aber gleichzeitig an Regelangeboten teil.

In fast allen Ländern gibt es gerade im Primarbereich auch die direkte Integration einzelner Kinder in die Regelklasse. Häufig funktioniert die Methode des „Sprachbads“ durch Mitschülerinnen und Mitschüler. Doch nicht immer steht hinter einer solchen Einzelintegration ein durchdachtes Konzept. Oft hat sie organisatorische Gründe, weil es zu wenige Kinder für eine eigene Intensivklasse gibt oder die nächste geeignete Schule zu weit ist. Baden-Württemberg geht hier einen anderen Weg und beschult Zugewanderte auch im Grundschulalter grundsätzlich in separaten Vorbereitungsklassen.

„Welche Förderung die beste ist, hängt immer von den Rahmenbedingungen vor Ort und vom jeweiligen Kind ab.“ (Nora von Dewitz)

Sprachwissenschaftler sehen separierende Modelle ganz ohne Kontakt zu Regelklassen eher skeptisch. Sie gehen davon aus, dass der tägliche Umgang mit deutschsprachigen Mitschülern viel bewirken kann – vorausgesetzt, die Kinder bekommen eine gute Begleitung. Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln befasst sich seit Jahren mit verschiedenen Konzepten. Im Frühjahr zogen die Experten bei einer Tagung eine Zwischenbilanz. Das Fazit des Instituts-Direktors Michael Becker-Mrotzek: „Es hilft nicht, Kinder lange in Extraklassen zu lassen. Besser ist, sie zumindest teilweise in den Regelunterricht zu integrieren. Dann bekommen sie nämlich neuen Input durch ihre Mitschüler und den Fachunterricht.“ Ob der Wechsel in die Regelklasse gelingt, hängt nach Ansicht des Experten sowohl vom jeweiligen Konzept der Schule als auch von Personal-Ressourcen ab.

Seine Kollegin Nora von Dewitz sieht das ähnlich. Da sie weiß, wie unterschiedlich Bundesländer, Schulträger und Schulen selbst die Sprachförderung handhaben, fällt es ihr schwer, ein bestimmtes Modell zu empfehlen. „Welche Förderung die beste ist, hängt immer von den Rahmenbedingungen vor Ort und vom jeweiligen Kind ab“, sagt die Sprachwissenschaftlerin und nennt ein Beispiel: „Wenn die Lehrkräfte einer Regelklasse es nicht als ihre Aufgabe ansehen oder nicht dafür qualifiziert sind, sprachsensibel zu unterrichten und auf die Bedürfnisse neu Zugewanderter einzugehen, kann die Beschulung in einer separaten Klasse für einen begrenzten Zeitraum sinnvoller sein.“

„Wir brauchen eine fortlaufende Dokumentation der Sprachentwicklung, die Lehrerinnen und Lehrern bei ihren Entscheidungen unterstützen kann.“ (von Dewitz)

Viele Lehrerinnen und Lehrer wiederum fühlen sich mit der gewaltigen Doppelaufgabe von Sprachförderung und Integration allein gelassen. Sie wünschen sich mehr Unterstützung von Politik, Schulträgern und Wissenschaftlern. Sie suchen nach valider Orientierung bei der Entscheidung, wie sie Kinder am besten fördern und mit welchen Instrumenten.

Von Dewitz kennt das Problem. Die bisherigen Verfahren zur Sprachstands-erhebung seien zu wenig auf die Ziel-gruppe der neu Angekommenen zugeschnitten, räumt die Expertin ein. „Es geht ja nicht nur darum, wie gut ein Kind alphabetisiert ist. Es geht auch um allgemeine schulische Vorerfahrung und Kenntnisse in bestimmten Fächern.“ Außerdem sei es mit einer einmaligen Erhebung zu Beginn nicht getan, sagt von Dewitz: „Wir brauchen eine fortlaufende Dokumentation der Sprachentwicklung, die Lehrerinnen und Lehrern bei ihren Entscheidungen unterstützen kann.“

Tartaro, der Lehrer der Frankfurter Intensivklasse, will nicht so lange warten, bis Forscher beziehungsweise der Schulträger ihm solche Instrumente zur Verfügung stellen. Er arbeitet an einem eigenen Kriterienkatalog für den Wechsel in die Regelklasse, an dem sich dann auch andere Kolleginnen und Kollegen orientieren können. Denn zu oft, so seine Kritik, entscheide das „Bauchgefühl“ darüber, ob und wann ein Kind in die Regelklasse wechselt. Für die Zukunft hofft Tartaro auf Unterstützung durch Sprachwissenschaftler und andere Fachleute: „Wir brauchen weitere Testverfahren für jedes Kind – aber das können wir Lehrer nicht zusätzlich leisten, das müssten wir den Experten überlassen.“