Genderpolitik und Digitalisierung
„Man muss sich ein dickes Fell zulegen“
Der Frauenanteil in den MINT-Studiengängen ist nach wie vor niedrig. Das Frauenprojektlabor an der Fachhochschule Dortmund versucht, das zu ändern. Doch das ist gar nicht so einfach.
Zwölf Uhr mittags, an einem Donnerstag Ende Januar. Im Hauptgebäude der Fachhochschule (FH) Dortmund sind alle Flure leer und die Plätze in der Mensa restlos gefüllt. Auf den ersten Blick scheint nichts ungewöhnlich zu sein auf dem Campus in der Sonnenstraße 96. Das Gebäude liegt verkehrsgünstig in der Innenstadt, ungefähr in der Mitte zwischen Hauptbahnhof und Westfalenstadion. Früher war es eine königliche Maschinenbauschule. Heute sitzen hier die Fachbereiche Elektrotechnik, Maschinenbau und Informationstechnik. Und eines der ältesten und interessantesten Projekte in Sachen Frauenförderung in den MINT-Fächern.
MINT, das steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Seit Jahren fehlen Fachkräfte in dem Bereich. Durch die Digitalisierung wird der Bedarf noch größer. Doch die Zahl der MINT-Studierenden hält damit nicht Schritt, vor allem Frauen sind deutlich unterrepräsentiert. Politik, Unternehmen und Hochschulen bemühen sich deshalb verstärkt darum, auch Frauen für technische und naturwissenschaftliche Fächer zu gewinnen. Die Resultate sind durchwachsen.
Annette Zacharias deutet auf die Studierenden, die in der Mensa zu Mittag essen. Man muss nur einen Moment länger hinschauen, dann wird klar, was mit dem abstrakten Begriff „unterrepräsentiert“ gemeint ist. Fast nur junge Männer sitzen dort. Ich zähle zwei Studentinnen und über 100 Studenten. „Das“, sagt Zacharias, „sehen Sie hier oft.“
„Die Mädchen sollen sehen, dass Technik nicht nur etwas für Nerds ist.“ (Annette Zacharias)
Zacharias leitet das Frauenprojektlabor an der FH Dortmund. Die 61-Jährige weiß, was es heißt, in der Minderheit zu sein. Als Professorin für Mathematik und Datenverarbeitung am Fachbereich Elektrotechnik ist sie eine Ausnahme. Bei den Lehrenden ist die Überzahl der Männer noch größer als bei den Studierenden. Um an diesem Ungleichgewicht etwas zu ändern, setzt das Frauenprojektlabor auf zwei Ebenen an. Zum einen bietet es Studentinnen einen eigenen Raum. Zum anderen arbeitet es daran, mehr Frauen und Mädchen für Technik zu begeistern.
Jedes Jahr besuchen im Schnitt 500 Schülerinnen ab der 5. Klasse die Veranstaltungen des Projekts, zum Girls‘ Day, zu Projekttagen, zu Technik-Rallyes, zu mehrtägigen Technik-Ferienprogrammen. Begleitet von Studentinnen, die zu Mentorinnen ausgebildet wurden, führen die Mädchen im Labor selbst Versuche durch. Damit sie etwas davon haben, wird auf kleine Besuchergruppen von höchstens zehn Schülerinnen geachtet. Sie bauen Roboter, programmieren eigene Webseiten, lernen, wie Brennstoffzellenautos funktionieren. „Wir wollen zeigen, wie spannend Technik sein kann“, sagt Zacharias. „Die Mädchen sollen sehen, dass Technik nicht nur etwas für Nerds ist.“
„Nur wenn Frauen ungestört unter sich sein können, bringt das was.“ (Michelle Kleemann)
Das Konzept hat sich bewährt. Die Nachfrage nach den Veranstaltungen ist groß. So groß, dass das Frauenprojektlabor nicht mehr in die Schulen gehen muss, um für seine Angebote zu werben. So groß auch, dass es mittlerweile Anfragen gibt, ob nicht auch Schüler teilnehmen können. „Das können wir nicht machen“, sagt die Maschinenbau-Studentin Michelle Kleemann, die im Frauenprojektlabor mitarbeitet. „Wir wollen ja gezielt die Mädchen ansprechen und ihr Interesse für Technik wecken“, sagt sie. „Wenn auch Jungs dabei sind, drängen sie die Mädchen an den Rand, weil sie Technik als ihr Ding ansehen.“
„Nur wenn Frauen ungestört unter sich sein können, bringt das was“, hat Kleemann bei ihrer Projektarbeit beobachtet. „Den Mädchen tut das gut“, sagt sie. „Alle, die kommen, sind begeistert.“ Und einige fassen nach einem Projekttag den Entschluss, nach dem Abitur ein technisches Studium zu beginnen.
Tief verwurzelte Vorurteile
Ob sie es dann tatsächlich tun, steht auf einem anderen Blatt. Studien zeigen, dass die Pubertät für viele Mädchen eine Phase der Zweifel ist. Vor allem an ihren Fähigkeiten in jenen Bereichen, die nach wie vor als Männerdomäne gelten. Wie die MINT-Fächer. Bei der Berufswahl entscheiden sich junge Männer und Frauen auch heute noch überwiegend nach traditionellen Mustern: hier was mit Technik, dort was mit Menschen.
Wie lange es dauert, tief verwurzelte Vorstellungen zu ändern, zeigt die Geschichte des Frauenprojektlabors. Schon seit fast 20 Jahren gibt es das Projekt. Es gehört damit zu den Pionierprogrammen zum Thema Frauen und MINT. Die damalige Gleichstellungsbeauftragte der FH wollte sich nicht damit abfinden, dass Frauen in den technischen Fächern kaum vorkommen. Sie sprach mit dem Rektorat, sie sprach mit den Fachbereichen. Und konnte diese 2001 zu einer Kooperation bewegen. Kooperation hieß, es gibt einen Raum für das Projekt und ein schmales Budget. „Sehr viel Überzeugungsarbeit war dafür nötig“, sagt Zacharias, die zwei Jahre später die Leitung übernahm. „Die Widerstände waren enorm.“
Heute ist das anders. Die FH glänzt mit ihrem Projekt. Schon ein Jahr nach der Gründung erhielt sie dafür als einzige Hochschule in Nordrhein-Westfalen einen Preis für ihre Gleichstellungsarbeit. Das Projekt bekam einen besseren Raum, er liegt jetzt direkt am Haupteingang, ist groß, hell, schlicht und funktional eingerichtet und strahlt gleichzeitig eine wohnliche Atmosphäre aus, in der Mädchen sich wohlfühlen können. Lange Zeit leitete Zacharias das Projekt ehrenamtlich, inzwischen kann sie zwei Wochenstunden darauf verwenden und hat eine wissenschaftliche Mitarbeiterin mit einer halben Stelle. Auch um das Budget muss sie nicht mehr kämpfen. Dabei sind die Mittel ohnehin minimal. Lediglich 13.000 Euro stellen Rektorat und Fachbereiche pro Jahr zur Verfügung.
Im Fachbereich Elektrotechnik hat sich der Frauenanteil verdoppelt. Allerdings ist er immer noch sehr gering. Statt 10 Prozent sind es jetzt 20. Beim Maschinenbau sind die Zahlen sogar rückläufig. „Wir hatten mal 10 Prozent, jetzt sind es nur noch 7“, sagt Zacharias.
„Die MINT-Studiengänge müssen geschlechtersensibel gestaltet werden. Davon würden nicht nur Frauen profitieren, sondern auch die Männer.“ (Frauke Gützkow)
Das Frauenprojektlabor gehört zum bundesweiten Netzwerk Komm Mach MINT. Doch gerade hier wird sichtbar, dass es eine Sache ist, mehr Frauen für die MINT-Fächer zu gewinnen. Und die andere ist die Frage, was danach passiert. „Es ist schon anstrengend, dass wir so wenige sind“, sagt Maschinenbau-Studentin Kleemann. Von den Männern kämen oft abwertende Sprüche, sagt sie: „Man muss sich ein dickes Fell zulegen.“
Und das ist nicht das einzige Problem. In den meisten Kursen ist Kleemann die einzige Frau. „Die Vernetzung ist dann nicht so gut, und damit fehlen viele Informationen, die die Männer haben und unter sich austauschen.“ Die regelmäßigen Treffen, die das Frauenprojektlabor anbietet, sollen dem entgegenwirken. Doch nicht alle Frauen wollen das. „Viele Frauen sagen, warum soll ich Hilfe brauchen?“, erzählt Kleemann. „Sie wollen sich nicht als Opfer sehen, als jemand, der es nicht allein schafft.“ Das Gefühl, dass Frauen wenig zugetraut wird und sie sich immer wieder beweisen müssen, sei sehr präsent. Nicht nur an der Hochschule, sondern auch bei den Praktika im Rahmen des Studiums. „Der MINT-Bereich“, sagt sie, „ist immer noch eine Männerkultur.“
„Es ist überfällig, an den Fächerkulturen zu arbeiten“, sagt Frauke Gützkow, die im Vorstand der GEW für Frauenpolitik verantwortlich ist. „Die MINT-Studiengänge müssen geschlechtersensibel gestaltet werden“, fordert sie. „Davon würden nicht nur Frauen profitieren, sondern auch die Männer.“
Tatsächlich haben die MINT-Fächer eine besonders hohe Abbrecherquote. Gut zwei Drittel der Studierenden geben vor dem Abschluss auf. Das gilt für Männer wie für Frauen. Hier anzusetzen und die Bedingungen so zu verändern, dass weniger ihr Studium abbrechen, könnte und müsste Teil der Lösung sein. Vielleicht wäre dann auch der Frauenanteil in der Mensa auf dem Campus in der Sonnenstraße 96 der FH Dortmund mittags höher und die männlichen Studenten blieben nicht mehr überwiegend nur unter sich.