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Filmkritik „Wochenendrebellen“

Krieg im Kopf

Ein autistisches Kind, das äußere Reize als „viel zu viel“ wahrnimmt, ins Fußballstadion mitzunehmen, klingt unglaubwürdig. Den Fall gibt es aber tatsächlich: Vater und Sohn haben ein Buch daraus gemacht, Marc Rothemund hat es verfilmt.

Jason (Cecilio Andresen, re.) will zusammen mit seinem Vater Mirco (Florian David Fitz) herausfinden, welcher Fußballverein für ihn der richtige ist. (Foto: jetztundmorgen)

Der zehnjährige Jason (Cecilio Andresen) ist Autist. Was das bedeutet, lässt der Film uns spüren, wenn Jason jeden Morgen in die Schule geht: Sämtliche Sinneswahrnehmungen, jedes Geräusch, ob menschliche Stimmen, Musik, ein gedribbelter Ball, ein hingeworfenes Fahrrad, dringen ungebremst auf ihn ein, sind überlaut und überwältigend. Schützen kann er sich kaum davor, den Stress muss er einfach aushalten. Für alles, was sich von ihm kontrollieren lässt, findet er dagegen Regeln, die ihm das Leben erträglich und gleichzeitig zur Hölle machen. Etwa, wenn die eigenen Regeln sich gegenseitig im Weg stehen und ihn in ein unauflösliches Dilemma führen. Dann, sagt er, „ist Krieg in meinem Kopf“.

Zum Beispiel, wenn der freundliche, wenn auch überlustige („der ist nicht lustig“) Kellner im Speisewagen zwar die Soße neben den Nudeln serviert, aber übersehen hat, dass drei Nudeln von der Soße berührt werden. Ein klarer Verstoß gegen die Regel, dass Soße und Nudel sich eben auf keinen Fall auf dem Teller berühren dürfen. Als „Papsi“ Mirco (Florian David Fitz) vorschlägt, einfach noch mal neu zu bestellen, hilft das auch nicht weiter: Essen darf nicht verschwendet werden. Ganz einfach: Dann isst der Papa eben die drei von der Soße berührten Nudeln, oder? Von wegen! Klarer Verstoß gegen die Regel: „Ich teile mein Essen nicht.“ Eine Auflösung ist nicht möglich. Krieg im Kopf, Ausraster, Geschrei, Rauswurf aus dem Zug.

Kein Abgleiten ins Melodramatische

Freunde hat Jason keine. Dafür wirkt er mit seinem Hang zur Belehrung, seinem Hobby, der Astrophysik und seinen vielen Regeln zu streberhaft. Als er den hänselnden Mitschülerinnen und -schülern keinen Lieblingsfußballverein nennen kann, setzt das bei ihm etwas in Gang. Er will herausfinden, welcher Verein für ihn der richtige ist: Papsis Fortuna Düsseldorf oder Mamis (Aylin Tezel) Ballspielverein Borussia (BVB) Dortmund? Oder ein ganz anderer Verein? Und weil Jason ein strukturiert denkender Mensch ist, beschließt er, vor seiner Entscheidung alle 56 Profivereine der ersten bis dritten Liga im Stadion zu begutachten. Papsi schlägt ein, unter der Voraussetzung, dass sich Jason in der Schule nicht mehr zu Ausrastern provozieren lässt (es droht ein Wechsel auf die Förderschule).

Selbstverständlich hat Jason klare Kriterien für die Wahl seines Vereins: kein peinliches Maskottchen, die Mannschaft darf vor dem Spiel keinen Kreis bilden, nicht zu viele verschiedenfarbige Fußballschuhe, keine Nazis im Stadion. Obwohl im Zentrum des samstäglichen Rituals der pure Stress für Jason steht: Lärmwogen, rempelnde Menschen – überhaupt: Menschen! –, Bierduschen, zu viele Farben, am Ende überwiegt das Bonding zwischen Vater und Sohn und lässt Jason trotz aller Widrigkeiten den Stress ertragen.

Verdienst des Films ist es, diese Qualen und Leiden zu zeigen, ohne ins Melodramatische abzugleiten. Wenn es gefragt ist, spielt Fitz gekonnt zurückgenommen auf der Klaviatur der Komödie, wobei man ihm den kumpeligen, besorgten, manchmal sogar verzweifelten „Papsi“ genauso abnimmt. Einen schönen Akzent setzt Joachim Król als leidenschaftlicher BVB-Fan und verständnisvoller Großvater, der sich, als es gilt, zwischen Enkel und Verein zu entscheiden, ganz klar den BVB wählt: Alle Drei sind beim Auswärtsspiel der Borussia bei Hertha BSC im Berliner Olympiastadion, das Jason aber nicht betreten will („ein Nazi-Stadion“). Vater und Sohn bleibt nichts anderes, als ins Taxi zu steigen und zum Heimspiel des Regionalligisten SV Babelsberg 03 nach Potsdam zu fahren.

Im Abspann erfährt man, dass Jason und Mirco, deren Buch 2018 erschien, noch immer jeden Samstag durch die Fußballstadien ziehen. 

Kinostart: 28. September 2023