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Startchancenprogramm

Kompromiss nach zähen Verhandlungen

Die ersten 1.000 Schulen in einem schwierigen sozialen Umfeld sollen ab 1. August 2024 Unterstützung durch das Startchancenprogramm erhalten. Darauf haben sich Bund und Länder nach langwierigen Verhandlungen verständigt.

Mehr als 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind arm oder armutsgefährdet. Einem Teil von ihnen soll das Startchancenprogramm helfen. (Foto: IMAGO/Steinach)

Lange, viel zu lange dauerten die zähen und holprigen Gespräche und das politische Bund-Länder-Tauziehen um das Startchancenprogramm. Es gilt als das wichtigste bildungspolitische Projekt der Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP. Im November 2021 von den Parteien im Koalitionsvertrag vereinbart, benötigte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) jedoch weit über ein Jahr, bis sie den Ländern überhaupt erste konkrete Konzeptvorschläge vorlegte. Die Länder, insbesondere die unionsgeführten, schalteten in Sachen Kooperation mit dem Bund zunächst auf stur und ließen einen von Stark-Watzinger dilettantisch vorbereiteten Bildungsgipfel 2023 (s. E&W 4/2023) durch Nichtteilnahme platzen. Zugleich engten Ukrainekrieg und Corona-Pandemie den Haushaltsspielraum der Bundesbildungsministerin erheblich ein.

Bis zum Schuljahr 2026/2027 sollen alle 4.000 Schulen feststehen, die zehn Jahre lang im Rahmen dieses Bund-Länder-Programms auf verschiedene Weise finanzielle und personelle Hilfe bei der Förderung der Kinder erhalten. Der Bund stellt dafür zehn Jahre lang jeweils eine Milliarde Euro jährlich zur Verfügung. Weitere bis zu zehn Milliarden sollen über den gleichen Zeitraum hinweg die Länder aufbringen. Stark-Watzinger sprach von „dem bisher größten und langfristigsten Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Christine Streichert-Clivot (SPD), äußerte die Hoffnung, dass es mit dem Programm endlich gelingen werde, den „nach wie vor sehr starken und vielleicht sogar wieder stärker gewordenen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen“.

Das Startchancenprogramm besteht aus drei Säulen:

Säule I:

Knapp vier Milliarden des Bundesgeldes sollen innerhalb der nächsten zehn Jahre für die Schaffung von „modernen, klimagerechten und barrierefreien Lernorten“ in den von den Ländern auszusuchenden Schulen investiert werden. Nur in dieser Säule wird das Geld an die Länder nach sozialen Kriterien ausgezahlt – etwa Migrantenanteil, Armutsquote und Arbeitslosigkeit der Eltern – statt wie bisher üblich nach Einwohnerzahl, Steueraufkommen und Wirtschaftsleistung („Königsteiner Schlüssel“). Bayern und Hessen, aber auch Baden-Württemberg hatten sich dieser vom Bund und auch von der GEW geforderten Regelung lange widersetzt. Reguläre, ohnehin an den Schulgebäuden anstehende Reparaturen, werden nicht unterstützt. Rechtsgrundlage dafür ist der Investitions-Artikel 104c des Grundgesetzes. Der Vorteil: Hier kann der Bund auch die Verwendung der Gelder kontrollieren, notfalls von Ländern und Kommunen Akteneinsicht verlangen. Das Programm soll später wissenschaftlich evaluiert werden.

Säule II:

Ein „Chancenbudget“ in Höhe von rund drei Milliarden Euro Bundesanteil soll den ausgewählten Schulen neue Spielräume für die Unterrichtsentwicklung eröffnen und pädagogische Unterstützungsstrukturen ermöglichen. Über den Einsatz der Mittel sollen die Schulleitungen vor Ort entschieden.

Säule III:

Weitere drei Milliarden aus dem Bundestopf dienen der Verstärkung der Schulsozialarbeit und der sogenannten multiprofessionellen Teams. Den Angaben zufolge lässt sich allein mit dem Bundesgeld jährlich eine volle zusätzliche Stelle pro Schule finanzieren.

60 Prozent der zu fördernden Schulen sollen Grundschulen sein. Als Reaktion auf die jüngsten miserablen Ergebnisse verschiedener Schulleistungsstudien soll nach dem Willen der Bildungsministerien ein zentraler Fokus des Programms auf der Stärkung der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen liegen. Zur Finanzierung der Säulen II und III erhöht der Bund den Anteil der Länder am Umsatzsteueraufkommen um 600 Millionen Euro jährlich. Werden diese Mittel von den Ländern nicht sachgerecht eingesetzt, kann der Bundesrechnungshof dies zwar anprangern, konkrete rechtliche Folgen hat dies jedoch nicht.

Nur die Hälfte der Kinder und Jugendlichen wird erreicht

Die GEW hat die Verständigung von Bund und Ländern „grundsätzlich begrüßt“. „Es ist gelungen, dass ein Teil der Gelder nach Sozialindex verteilt wird. Das ist im Vergleich zur Vergangenheit und der Mittelvergabe nach dem ,Königsteiner Schlüssel‘ ein echter Durchbruch“, sagte GEW-Vorsitzende Maike Finnern. „Endlich kann ein Teil der Gelder zielgerichtet dort eingesetzt werden, wo er am meisten benötigt wird: in armen Stadtvierteln und Regionen, für arme Familien.“ Die GEW stellte aber zugleich fest, dass insgesamt zu wenig Mittel bereitgestellt würden und der Anteil der bedarfsgerecht zu verteilenden Gelder viel zu niedrig sei. Das Programm erreiche nur 10 Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Finnern: „Gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet.“

„Es wäre notwendig, das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten.“ (Saskia Esken)

Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken wiederholte mit Blick auf die Einigung der Bildungsministerinnen und -minister ihre Forderung, die Startchancen-Mittel zu verfünffachen. „Es wäre notwendig, das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten“, sagte sie dem Handelsblatt. Auch die Stellungnahmen verschiedener Bildungsforscherinnen und -forscher sowie der oppositionellen Linken im Bundestag verweisen auf ein unzureichendes Volumen des Startchancenprogramms.

Nach der Einigung muss das Programm nunmehr noch von allen 16 Ländern und dem Bund im Verlauf des März offiziell ratifiziert werden. Damit wird jetzt zwar allgemein gerechnet – jedoch gibt es im Hintergrund nach wie vor ein politisches Bund-Länder-Tauziehen um die Fortschreibung des ebenfalls milliardenschweren Digitalpaktes. Der erste Pakt läuft im Mai aus. Einige unionsgeführte Länder, Bayern und Sachsen voran, fordern vor ihrer abschließenden Zustimmung zum Startchancenprogramm konkretere Zusagen des Bundes für den Digitalpakt II. Dieser müsse zumindest das gleiche Volumen wie bisher haben – also eine Milliarde Euro pro Jahr. Der Bund hingegen dringt auf eine deutlich höhere finanzielle Beteiligung der Länder.