Kommentar
Keine Zeit zum Ausruhen
Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre hat sich nicht ausreichend in höheren Bildungsinvestitionen niedergeschlagen. Kinder, Beschäftigte und Eltern baden das Versäumnis nun aus.
„Das deutsche Bildungssystem kann sich sehen lassen“, sagte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bei der Vorstellung der neuen Studie Bildung auf einen Blick der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Deutschland sei international führend in MINT (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). In keinem anderen OECD-Land entschieden sich mehr Studienanfängerinnen und -anfänger für ein MINT-Fach als in Deutschland.
Ja, stimmt, aus der 578-seitigen OECD-Studie kann das herausgelesen werden. Die OECD stellt Deutschlands Bildungslandschaft dieses Jahr ein recht ordentliches Zeugnis aus. So betont sie den vergleichsweise hohen Ausgabenanteil für die frühkindliche Bildung. Doch Statistiken alleine bilden die Realität nicht ausreichend ab. In den Kitas, Schulen und an Universitäten fehlt es an Personal und guter Ausstattung, das erleben wir tagtäglich.
Wer junge Eltern fragt, stellt fest, dass sie große Schwierigkeiten haben, Plätze in der Krippe oder in Kindertageseinrichtungen zu finden. Kommunen und freie Träger suchen händeringend Fachkräfte für ihre Kindertageseinrichtungen. Erzieher*innen müssen immer noch Geld für ihre Ausbildung mitbringen. Sie verdienen in der nächsten Tarifrunde eine Aufwertung. Dafür muss mehr Geld bei Bund, Ländern und Kommunen bereitgestellt werden.
In diesen Wochen wird der Bundeshaushalt beraten. Ein Finanzschub in Richtung Bildung ist nicht zu erkennen. Hier muss nachgelegt werden.
Deutschland hätte deutlich mehr investieren können und müssen. Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre hat sich nicht ausreichend in höheren Bildungsinvestitionen niedergeschlagen. Kinder, Beschäftigte und Eltern baden das Versäumnis nun aus. Trotz absoluter Ausgabensteigerung sind die relativen Aufwendungen Deutschlands für Bildung gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zur ersten Hälfte der 2010er-Jahre gesunken. Im internationalen Bildungsvergleich erfolgreiche Länder sind in der Vergangenheit einen anderen Weg gegangen. Sie haben ihre Bildungsausgaben absolut und relativ zu ihrer Wirtschaftskraft deutlich gesteigert, wie die OECD-Studie Jahr für Jahr belegt.
Auf dem Dresdner „Bildungsgipfel“ hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder 2008 vereinbart, ab 2015 10 Prozent des BIP in Bildung und Forschung zu investieren; 7 Prozent in Bildung und 3 in Forschung. Von diesem Ziel sind wir immer noch meilenweit entfernt. Hätte Deutschland 2016 von den Grund- bis zu den Hochschulen nicht 4,2 Prozent, sondern wie Norwegen 6,5 Prozent des BIP ausgegeben, stünden alleine diesen Bildungseinrichtungen jährlich 72 Milliarden Euro mehr zur Verfügung, um ihre gesellschaftlich wichtigen Aufgaben zu lösen. In diesen Wochen wird der Bundeshaushalt beraten. Ein Finanzschub in Richtung Bildung ist nicht zu erkennen. Hier muss nachgelegt werden.
Bildung erhält nicht die notwendige Wertschätzung.
Bildung erhält nicht die notwendige Wertschätzung. Das steht den Wahlprogrammen und Sonntagsreden der Politik entgegen, in denen der hohe Stellenwert der Bildung für die Gesellschaft unterstrichen wird. Die Rolle des Berufsbildungssystems wird international immer wieder gelobt. Darauf können wir stolz sein, aber auch hier muss die Schlagzahl erhöht werden. Diesen Schulen fehlt Geld, um mit der digitalen Entwicklung in den Berufen mitzuhalten. Das Geld aus dem Digitalpakt reicht dafür nicht. Das hat die GEW in einer Studie belegt.
Mit der Umsteuerung durch Digitalisierung und in der Energiepolitik werden viele Arbeitsplätze verloren gehen, andere kommen hinzu. Dieser Umbruch 4.0 ist eine riesige Herausforderung für die Weiterbildung und das lebenslange Lernen. Die Nationale Weiterbildungsstrategie ist ein Anfang. Sie muss materiell gut hinterlegt sein und zudem auch kulturelle sowie politische Bildung umfassen.
Die OECD kritisiert zudem, dass in Deutschland Frauen – auch wenn sie Vollzeit arbeiten – weniger verdienen als Männer. Deshalb: Keine Zeit zum Ausruhen, Frau Ministerin.