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Filmkritik

Kampf um die Wahrheit

Der Film „Die Gewerkschafterin“ erzählt die Geschichte einer starken Frau, die mit sexueller Gewalt und institutionellen Mobbings von einer Übermacht beinahe vernichtet worden wäre.

Foto: Weltkino Filmverleih

Wir sehen eine Frau, offenbar eine Reinigungskraft, einen Hausflur betreten und nach ihrer Chefin rufen. Im Keller findet sie diese an einen Stuhl gefesselt, ein blutiges „A“ in den Bauch geritzt. Ihre Vagina wurde mit dem Griff eines Messers penetriert, dessen Schneide zwischen ihren Beinen herausragt. Das Vergewaltigungsopfer im Film „Die Gewerkschafterin“, den Jean-Paul Salomé nach dem auf einem realen Fall basierenden Roman „La Syndicaliste“ der investigativen Journalistin Caroline Michel-Aguirre gedreht hat, ist Maureen Kearney, die ranghöchste Gewerkschafterin im französischen Atom-Unternehmen Areva.

In Salomés Film haben wir Kearney zu diesem Zeitpunkt schon kennengelernt als eloquente, selbstbewusste Person. Die Vergewaltigung ist nicht der erste Versuch, sie einzuschüchtern. Denn Kearney ist eine Whistleblowerin. Von einem Informanten hat sie von einem geheimen Deal erfahren: Areva will Atomtechnologie-Know-how an China verkaufen. 50.000 Arbeitsplätze sind gefährdet. Kearney entscheidet sich, den Deal öffentlich zu machen und muss dabei feststellen, dass sie gegen Wände läuft. Kaum ein Politiker schenkt ihr Gehör, viele wiegeln ab, weichen aus. Endlich erhält sie einen Termin bei Präsident François Hollande, doch wenige Stunden, bevor sie ihn treffen kann, wird sie in ihrem Haus überfallen.

Isabelle Huppert spielt diese scheinbar furchtlose Gewerkschafterin mit stoischer Würde, ebenso illusionslos wie unermüdlich und entschlossen. Die Vergewaltigung erschüttert sie im Kern und doch absolviert sie die endlosen Befragungen der Polizei scheinbar gelassen. Wer hat die Drohangriffe und Angriffe auf Kearney in Auftrag gegeben? Wer versucht, sie zum Schweigen zu bringen? Die Antwort auf diese Fragen, die bis heute – nach mehr als zehn Jahren – im richtigen Leben unbeantwortet sind, rückt Salomé nicht ins Zentrum des Films, auch wenn sie vorübergehend in der Person des cholerischen Areva-Vorstandsvorsitzenden nahegelegt wird.

Brillante Isabelle Huppert

Denn der eigentliche Skandal im Fall Kearney ist – schlimm genug – womöglich nicht die Vergewaltigung und der Versuch, sie damit mundtot zu machen. Was Salomé interessiert, ist das, was nach dem Überfall passiert: Die Polizei kramt nämlich in Kearneys Vergangenheit und kommt zu dem Schluss, dass sie sich alles ausgedacht haben muss und die Vergewaltigung inszeniert hat. Höchst verdächtig schon, dass sie in den Verhören so ruhig bleibt. Noch verdächtiger, dass sie als Jugendliche schon einmal vergewaltigt wurde und – wie sich später herausstellte – zuvor keine Unterwäsche unter ihrem Rock getragen hatte …

Mit Verve wirft sich die Polizei auf die nun verdächtig gemachte Kearney und bezichtigt sie der Vortäuschung eines Verbrechens. Während die Ermittlungen des tatsächlichen Verbrechens äußerst schlampig betrieben, wenn nicht gar sabotiert werden, arbeiten die Ermittler mit allen Tricks und stundenlangen Verhören, um Kearney dazu zu bringen, ihre Anzeige zurückzuziehen. Diese verliert trotz des zunehmenden Drucks im Film zwar nie die Fassung, doch Hupperts gekonntes, beinahe subkutanes Mienenspiel setzt Kearneys abgrundtiefe Erschütterung unter der stoischen Oberfläche brillant in Szene.

Ab 6. Oktober 2023 auf DVD