Es war ein Mittwochmorgen im Oktober 2017, als Christin Siems der Kragen platzte. Mit ihren beiden Kindern stand sie in deren Kita in der Bremer Neustadt und hatte soeben erfahren, dass sie sie gleich wieder mit nach Hause nehmen durfte. Leider seien über Nacht drei weitere Erzieherinnen krank geworden, was bedeute, dass bis mindestens Freitag nur ein Notdienst für die allerdringendsten Fälle aufrechtzuerhalten sei. Dass Siems bis zum darauffolgenden Montag eine Präsentation für ihr ingenieurwissenschaftliches Studium fertigzustellen hatte, zählte nicht: „Das hieß, dass ich ganz spontan zusehen musste, wie ich eine Betreuung gewährleiste.“
Es war nicht das erste Mal, dass die Kita, in der Siems ihre damals zwei und vier Jahre alten Kinder untergebracht hatte, nur eine Notversorgung anbieten konnte. Ohnehin, sagt sie, sei die Einrichtung chronisch unterbesetzt gewesen. Gefehlt hätten 1,5 Stellen, das Äquivalent von 60 Wochenstunden. Gemeinsam mit anderen Betroffenen rief sie die Initiative „Kitanotstand Bremen“ ins Leben, die das Gespräch mit der zuständigen Senatsverwaltung suchte und im Februar 2018 rund 200 Mütter, Väter, Erzieherinnen und Erzieher zu einer Demonstration vor dem Rathaus versammelte. „Notdienste stinken“, stand auf den Plakaten, und: „Wo ist das gesparte Geld aus den offenen Stellen?“
So wie Siems geht es Eltern in ganz Deutschland; die Hiobsbotschaften aus der Welt der frühkindlichen Bildung häufen sich. „Einfach rausgeschmissen“ worden seien ihre Kinder – und das zwei Wochen nach Beginn des neuen Kita-Jahres, weil es für sie keine Betreuung gab, klagten im vorigen Herbst Eltern im niedersächsischen Landkreis Diepholz gegenüber der Lokalpresse. In Berlin und Brandenburg mussten 2017 nach Feststellung der dortigen Liga der Freien Wohlfahrtsverbände 16 Prozent der Kindertagesstätten freier Träger wegen Personalmangels ihre Öffnungszeiten reduzieren; 15 Prozent meldeten offene Stellen, die sie nicht besetzen konnten.
Wichtig sei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass mehr öffentliche Mittel für frühkindliche Bildung „keine Kosten, sondern Investitionen in die Zukunft“ seien. (Armin Schneider)
„Ich habe fast jeden Monat eine Situation, in der ich mit einer Leiterin intensiv darüber rede, wie wir es machen. Wenn wir zwei Langzeiterkrankte haben, drei, die zur Kur sind und zwei Kolleginnen mit Urlaubsansprüchen, dann wird es schon schwierig“, sagt Barbara Gärtner, Fachbereichsleiterin Kindertagesstätten bei der „Kinderarche Sachsen“. Der Verein mit Sitz in Radebeul betreibt 13 Einrichtungen an verschiedenen Orten des Freistaats: „Meistens findet sich eine Lösung“, ergänzt Gärtner. Seit 2013 bleiben die Kitas der „Kinderarche“ in jedem Herbst einen Tag lang geschlossen, damit Liegengebliebenes erledigt werden kann. Die Schließtage seien auch als Signal an die Öffentlichkeit und nicht zuletzt an die Eltern gemeint, „um darauf hinzuweisen: Kita-Betreuung braucht mehr Zeit“.
Wichtig sei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass mehr öffentliche Mittel für frühkindliche Bildung „keine Kosten, sondern Investitionen in die Zukunft“ seien, sagt Armin Schneider, Direktor des Instituts für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit an der Hochschule Koblenz: „Der aktuelle Fachkräftemangel geht alle an.“ Schneider hat eine Anfang 2018 veröffentlichte Studie zur Arbeitsbelastung des Leitungspersonals rheinland-pfälzischer Kindertagesstätten federführend betreut.* Angeschrieben wurden 123 Kitas, drei in jedem der 41 Jugendamtsbezirke des Landes, 84 Antworten gingen ein. Dabei nannten die Befragten als Hauptbelastungsfaktoren an erster Stelle die personelle Situation, Fachkräftemangel und Ausfallzeiten, an zweiter den immer weiter steigenden Verwaltungsaufwand. Im Durchschnitt müssen sie 70 Prozent mehr Zeit in Leitungsaufgaben investieren als in ihren Arbeitsverträgen vorgesehen.
„Es ist in unseren Augen absurd, dass eines der reichsten Länder der Welt keine Lösung für das Kita-Problem findet.“
Zunehmend rührt sich auch politischer Protest. Am letzten Maiwochenende demonstrierten in Berlin 3.500 Eltern, Erzieherinnen und Erzieher für bessere Vergütung und Arbeitsbedingungen, mehr Fachpersonal und nicht zuletzt für die Bereitstellung bezahlbarer Immobilien, in denen Kitas Platz finden können. „Es ist in unseren Augen absurd, dass eines der reichsten Länder der Welt keine Lösung für das Kita-Problem findet“, schrieben sie in den Demonstrationsaufruf. Seit Jahresanfang hatten die Initiatoren mobilisiert und unter anderem 40.000 Unterschriften für eine Onlinepetition „Wir brauchen Kita-Plätze jetzt“ gesammelt.
Bereits im vorigen Jahr hatten sich die Berliner Anbieter frühkindlicher Bildung, freie Träger, Kinderläden, Wohlfahrtsverbände, städtische Eigenbetriebe, zu einer landesweiten Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, um ihre Interessen mit mehr Nachdruck gegenüber dem Senat zu vertreten – „einmalig in der Geschichte seit der Wiedervereinigung“, nennt Susanne Bierwirth die Initiative. Sie ist Geschäftsführerin der gemeinnützigen GmbH GenerationenRaum, die im Stadtteil Moabit drei Kindertagesstätten mit 45 Beschäftigten und 100 Plätzen betreibt.
Ein Forderungskatalog der Träger fand im November 2017 über den Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses den Weg zu Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Eine gute Versorgung mit Kita-Plätzen sei in Berlin nicht gesichert, schrieben die Verfasser: „Eine erhebliche Anzahl von Plätzen ist nicht belegbar, weil Fachkräfte fehlen.“ Eine Situation, die Bierwirth mit dem Hinweis beschreibt, dass die Arbeitslosenquote unter Erzieherinnen und Erziehern 1,2 Prozent betrage — „quasi Vollbeschäftigung. Der Markt gibt keinen mehr her.“
Bereits 2014 brachte das Kita-Netzwerk Hamburg, ein Zusammenschluss von Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern und Leitungskräften unterschiedlicher Träger, in der Hansestadt 4.000 Demonstranten auf die Straße. Im November 2017 startete es eine Volksinitiative, um den Senat auf Maßnahmen für bessere Betreuung festzulegen, der sich binnen vier Monaten 30.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner anschlossen, das Dreifache des erforderlichen Quorums. „Wir sind die Initiative, die in der kürzesten Zeit die meisten Unterschriften gesammelt hat“, sagt Sprecherin Alexandra Balthasar, die im Übrigen von „konstruktiven Gesprächen“ mit dem Senat berichtet. Dieser habe zugesagt, in den vier Jahren von 2018 bis 2021 insgesamt 2.000 Stellen neu zu schaffen. Die Initiative veranschlagt einen Zusatzbedarf von 3.500 Fachkräften in der Hansestadt.
Balthasar kennt das Problem von beiden Seiten – als Mutter von Vorschulkindern und Erzieherin in der „Kita Tieloh“ in Barmbek, wo fünf Beschäftigte, unter ihnen drei in Teilzeit, 46 Kinder betreuen: „Bei uns funktioniert der Alltag einigermaßen.“ Das Team sei jung und gesundheitlich belastbar, die meisten Kinder älter als drei Jahre. Doch auch sie beklagt das Übermaß an „mittelbarer pädagogischer Arbeit“ durch bürokratische Anforderungen und empfindet eine „Diskrepanz zwischen dem eigenen pädagogischen Anspruch und dem, was in der Kita möglich ist“.