Rollentausch in der sechsten Klasse. Marco* erklärt seiner Lehrerin, wie man Winkel zeichnet. Förderschullehrerin Katrin Bichler hält ein großes Geodreieck an die Tafel und folgt den Anweisungen ihres Schülers: „Erst mal den Scheitelpunkt markieren, dann die Schenkel zeichnen. Das ist ganz einfach!“
Die Botschaft aus dieser Unterrichtsstunde: Geometrie ist nicht schwer – vor allem dann nicht, wenn man es sich gegenseitig erklärt. Bichler nutzt diese Methode oft – und übernimmt dabei auch schon mal die Schülerrolle. Sie unterrichtet die Klasse gemeinsam mit einer Regelschulkollegin an der Bertha-von-Suttner-Schwerpunktschule in Kaiserslautern. Die Teamarbeit ist das pädagogische und didaktische A und O der Integrierten Gesamtschule (IGS), an der seit vielen Jahren Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam lernen.
Die IGS Kaiserslautern war Mitte der 1990er-Jahre eine der ersten in Rheinland-Pfalz mit integrativem Unterricht. Heute ist die Inklusion fester Bestandteil des Schulprofils. Aber nicht nur hier, sondern auch an den anderen Schwerpunktschulen im Land, in denen der gemeinsame Unterricht mal mehr und mal weniger erfolgreich umgesetzt wird. Dass beim Inklusionsprozess kein Stillstand herrscht, zeigen Vorreiterschulen wie die Brüder-Grimm-Schule in Ingelheim. Sie ist vor wenigen Wochen mit dem renommierten „Jakob-Muth-Preis für inklusive Schule 2014“ ausgezeichnet worden (s. auch E&W 1/2014).
Die Landesregierung hatte das Konzept der Schwerpunktschule Ende der 1990er-Jahre, also lange vor der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention, mit Schulversuchen zum gemeinsamen Unterricht entwickelt. Seitdem findet Inklusion überwiegend an Schwerpunktschulen statt, die eine zusätzliche Personalzuweisung an Förderschullehrern und pädagogischen Fachkräften bekommen. Das sind in der Regel allgemeinbildende Schulen bis zur Sekundarstufe I – vor allem Grund- und Gesamtschulen sowie die sogenannten Realschulen plus, die aus der Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen hervorgegangen sind. Jeder Landkreis beziehungsweise jede kreisfreie Stadt soll nach den Plänen des Kultusministeriums in der Primarstufe mindestens eine Schwerpunktschule haben. Bei den weiterführenden Schulen müssen Kinder, die an Schwerpunktschulen unterrichtet werden wollen, jedoch auch weitere Wege in Kauf nehmen.
Gymnasien nicht beteiligt
Zwar hat dieses Konzept die Inklusion vorangetrieben – und tut es noch. Kritiker bemängeln jedoch, dass die Gymnasien bei dem Prozess fast komplett außen vor bleiben. „Diese Schulform hält sich raus und überlässt die Inklusion weitgehend den Integrierten Gesamtschulen“, sagt ein Lehrer der IGS Bertha-von-Suttner: „Manche Gymnasien melden sich bei uns und bitten: ‚Wir haben Probleme mit diesem Schüler, könnt ihr den nicht nehmen?’ Das widerspricht dem inklusiven Gedanken.“
Wie in anderen Bundesländern bleibt das Nebeneinander von Regel- und Förderschulen in Rheinland-Pfalz erst einmal bestehen. Einen Zeitplan für den Ausstieg aus dem Förderschulmodell gibt es nicht. Parallel zur Inklusion an den Schwerpunktschulen sieht die aktuelle Schulgesetznovelle laut Bildungsministerin Doris Ahnen (SPD) vor, dass „ausgewählte Förderschulen zu regionalen Förder- und Beratungszentren für die Inklusion ausgebaut werden können“. Zwar sinken die Schülerzahlen an den Sonderschulen im Land, dennoch lassen sich die Förderschulen, die geschlossen wurden, an einer Hand abzählen. Die Landesregierung fürchtet nicht nur die Proteste der betroffenen Schulen, sondern will nach eigenen Angaben auch den Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen entgegenkommen. Deshalb räumt sie ihnen ein „vorbehaltloses Wahlrecht“ ein. Sie können ihr Kind sowohl an eine inklusive Schwerpunkt- als auch an eine Förderschule schicken.
Größerer Lernzuwachs
Förderschullehrerin Bichler hatte während ihrer Ausbildung zur Sonderpädagogin zunächst die Arbeit in der Förderschule im Blick: kleine Klassen und Förderung mit dem Fokus auf den Einzelnen. Doch dann entschied sie sich für die Schwerpunktschule in Kaiserslautern mit ihren mehr als 1000 Schülerinnen und Schülern. „Eine richtige Entscheidung“, wie sie rückblickend sagt: „Die Kinder mit Beeinträchtigungen haben hier einen viel größeren Lernzuwachs als an der Förderschule.“
Das sieht sie zum Beispiel bei Ben aus ihrer sechsten Klasse, der in manchen Fächern noch viel Unterstützung braucht. Der Junge mit Lernschwierigkeiten ist einer von drei Schülern mit der offiziellen Diagnose „sonderpädagogischer Förderbedarf“ – de facto sind es jedoch sehr viel mehr Kinder, die eine Förderung brauchen. Während diese nach den üblichen Leistungskriterien bewertet werden müssen, darf Ben oft leichtere Aufgaben lösen und bekommt im Zeugnis keine Noten, sondern verbale Beurteilungen. Zwar rechnet der Sechstklässler bisher nur im Zahlenraum bis 100, doch in Geometrie kommt er fast genauso gut voran wie die anderen – auch, weil er gemeinsam mit leistungsstarken Schülern lernt. Deshalb weiß Ben jetzt, wie man Winkel korrekt zeichnet und ausmisst. Und falls es doch Probleme gibt: Sein Mitschüler Marco hilft ihm gerne.