Demografischer Wandel
In Kontakt bleiben
Der Anteil älterer Mitglieder in der GEW steigt. Was heißt das für die Gewerkschaftsarbeit, was wünschen sich die Seniorinnen und Senioren?
Die Reise nach Riga war für Dorothee von der Stein ein Jahreshighlight. Museen entdecken, am Fluss entlangschlendern, ein spannender Besuch in der deutschen Schule. „Wann sonst hat man die Gelegenheit, so tief in die Geschichte eines Landes einzutauchen?“, sagt von der Stein. Die fünf Tage im Baltikum mit der Seniorinnen- und Seniorengruppe der GEW Nordrhein-Westfalen (NRW) öffneten den Teilnehmenden Zugänge, die sonst verschlossen bleiben. Gerade jetzt, in Corona-Zeiten, zehrt von der Stein von der Erinnerung an diese Erlebnisse.
Seit 2018 ist die ehemalige Grundschulleiterin aus Essen im Ruhestand. Vor dem Shutdown nahm sie oft an den monatlichen Veranstaltungen für Seniorinnen und Senioren der örtlichen GEW teil. Mal ein Ausflug zur Zeche Zollverein, mal ein Nachmittag im Lichtburgkino, mal ein Thementag zu altersgerechtem Wohnen mit Ex-SPD-Chef Franz Müntefering. Im Ruhestand aus der Gewerkschaft austreten? Kommt nicht in Frage. „Ich schätze die Events und die schönen Kontakte.“ Geärgert hat sie jedoch, dass sie als Seniorin nicht mehr zum Schuljahresempfang des GEW-Stadtverbandes mit dem Oberbürgermeister, anderen Politikern und aktiven Lehrkräften eingeladen wurde. „Man fühlt sich ausgeschlossen. Dabei wollen wir Älteren doch mitbekommen, was sich in der Bildung tut.“
„Seniorenpolitisch kann die GEW über Bande spielen – indem sie durch Kampagnen und Lobbyarbeit dafür sorgt, dass Fragen, die Ruheständler betreffen, auf der politischen Agenda nach oben rutschen.“ (Svenja Pfahl)
Die Gesellschaft wird älter, die Mitgliederstrukturen der Gewerkschaften verändern sich. Auch bei der GEW. Schon jetzt ist bundesweit knapp ein Fünftel der Mitglieder im Ruhestand. „Das stellt die Gewerkschaft vor neue Fragen: Wen vertritt sie und auf welcher Grundlage?“, sagt Svenja Pfahl vom Institut für Sozialwissenschaftlichen Transfer (SowiTra) in Berlin. Angetreten, um Arbeitnehmerrechte in beamtenpolitischen Fragen und Tarifauseinandersetzungen zu vertreten sowie professionsspezifische Themen zu bearbeiten, wird ihr Aufgabenspektrum noch breiter.
Wie kann eine Gewerkschaft die Interessen der Älteren effektiv vertreten? Natürlich: Wer gute Gehälter für heute erstreitet, sorgt dafür, dass die Mitglieder morgen besser von ihren Renten und Pensionen leben können. Aber darüber hinaus? Pfahl: „Seniorenpolitisch kann die GEW über Bande spielen – indem sie durch Kampagnen und Lobbyarbeit dafür sorgt, dass Fragen, die Ruheständler betreffen, auf der politischen Agenda nach oben rutschen.“ Von der Rentenangleichung bis zur Mitwirkung der Älteren.
Unstrittig ist: Mitglieder im Ruhestand sind wichtig für Gewerkschaften. Nicht nur, weil es viele sind, sondern weil Ältere ihr Know-how einbringen und für Solidarität stehen. Forscherin Pfahl: „Gerade der GEW bleiben viele ältere Mitglieder treu, weil sie die GEW als politische Heimat sehen, Kontakte pflegen, gewerkschaftliche Arbeit weiter unterstützen und auf dem Laufenden bleiben wollen.“
GEW 2020: Fast ein Fünftel der Mitglieder sind Seniorinnen und Senioren. Viele Ältere bleiben der Bildungsgewerkschaft treu. Das ist wunderbar, denn ihr Wissen, ihre Stärke, ihre Vielfalt werden gebraucht. Ältere sind schließlich nicht alle gleich. Seniorinnen und Senioren in der GEW spiegeln eine Altersspanne von mehr als 30 Jahren wider. Menschen mit unterschiedlichen Biografien, Berufen und unterschiedlichen Bedürfnissen heute. Es ist Aufgabe von uns allen, diese Bedürfnisse immer wieder neu zu erkunden.
Seit 15 Jahren macht die GEW diese Suchbewegungen. Was erwarten Ältere? Ausflüge oder Bildungsangebote? Einen Chor oder eine sozialpolitische Debatte? Und wie möchten sie sich einbringen? Sicher ist: Die Formen werden vielfältiger.
Dabei muss auch die GEW als Organisation über ihre Rolle nachdenken. Was gehört zu den Aufgaben, was nicht? Sind es nur die Klassiker wie Alterssicherung, Gesundheit, Pflege? Oder sollte sich die GEW beispielsweise auch mit dem Thema „Sterbehilfe“ auseinandersetzen – und wenn ja: wie intensiv? Einerseits ist der Kampf für die Selbstbestimmung der Menschen (bis ins hohe Alter) ein gewerkschaftliches Ziel, andererseits ist „Sterbehilfe“ kein Kernthema.
Die Suchbewegung ist noch lange nicht beendet. Wir müssen sie gemeinsam fortsetzen. In einem fruchtbaren, offenen Austausch zwischen Alt und Jung. Damit unsere Gewerkschaft für alle steht, egal in welchem Alter.
Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik
Fitness, Pflege, Bildung
Annegret Caspers weiß das. Die Vorsitzende des GEW-Ausschusses für Ruheständler in NRW organisiert ehrenamtlich die Seniorinnen- und Seniorenarbeit auf Landesebene und im Stadtverband Essen. Jährliche Tagungen und monatliche Angebote zu Kultur, Gedächtnistraining oder Fitness, Inforunden über Rente, Pflege, Beihilfe gehören ebenso dazu wie regelmäßige Updates per Mail zu Neuigkeiten in Bildungspolitik oder Seniorenmitwirkung. Caspers seufzt: „Gerade erst mussten wir schweren Herzens beschließen, alle Veranstaltungen bis Ende des Jahres abzusagen. Durch Corona sind Live-Begegnungen einfach zu gefährlich für Ältere.“ Jetzt gibt es einen Rundbrief, dann will der Seniorenausschuss mit regelmäßigen E-Mails Kontakt zu den Ruheständlern halten. „Das ist in der Zeit der Isolation natürlich besonders wichtig.“ Angebote wie Meetings über die Videochat-Plattform Zoom, über die seit der Krise viele Unternehmen den Austausch mit ihren Mitarbeitern organisieren oder Freunde sich privat auf ein Glas Wein treffen, seien nicht realistisch.
Dafür ist umso mehr Zeit, das nächste Jahr vorzubereiten. Alle Veranstaltungen werden nachgeholt, Neues wird in den Blick genommen. Demnächst schickt die 70-Jährige ein Mailing an die Mitglieder: Was wünscht ihr euch? Sie bemüht sich, wo immer möglich die Älteren einzubeziehen, im nächsten Jahr sollen auch die Mitglieder im Ruhestand auf der Einladungsliste zum Schuljahresempfang stehen.
Denn überall wünschen sich Ältere mehr Austausch zwischen den Generationen, auch um weiterhin Verbindung zur Berufswelt zu haben. Doch viele Schulen und Kitas halten keinen Kontakt zu Ehemaligen, auch in der GEW sei das Interesse bei Jüngeren oft begrenzt, berichten Seniorenvertreter unisono, vielleicht aus Zeitnot im vollgepackten Berufsalltag.
„Die Zahl der Austritte Älterer geht zurück.“ (Hannelore Gutzmann)
Die Altersfrage spiele zudem in anderer Hinsicht eine Rolle, findet Frauke Schüdde-Schröter von der GEW Bremen. Die 65-Jährige ist seit zwei Jahren im Vorruhestand und beobachtet bei Veranstaltungen für Ältere: Erstens träfen sich oft dieselben Leute, zweitens sei die Altersspanne beachtlich. „Warum gibt es nicht auch eine Gruppe für Neue im Ruhestand?“, fragt die ehemalige Sekundarschullehrerin. „Gerade am Anfang hat man andere Bedürfnisse.“ Wie kann ich mein Leben im Ruhestand neu organisieren, wie helfen mir dabei zum Beispiel neue Apps? 2019 hat Schüdde-Schröter mit einer Kollegin daher ein Seminar zum Thema Smartphone-Nutzung ins Leben gerufen. Viermal im Jahr treffen sich nun Menschen zwischen 61 und 75 Jahren zur Handyschulung in der Bremer Geschäftsstelle.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es schon länger Zweierlei: eine Ruheständlergruppe für Mitglieder ab 65 Jahren und eine 50-plus-Runde für die Jahrgänge 1955 bis 1965. Ziel der 50-plus-Workshops: Teilnehmerinnen und Teilnehmer langsam auf den Ruhestand vorzubereiten und zu zeigen, was ihnen die GEW dann zu bieten hat. Zusätzlich gibt es Tipps für den Schulalltag. Das Konzept scheint zu greifen. „Die Zahl der Austritte Älterer geht zurück“, resümiert Seniorinnen- und Seniorenvertreterin Hannelore Gutzmann.
Ein großes Problem ist damit allerdings nicht gelöst: Wie lassen sich mehr Ältere zum Engagement bewegen, gar dazu, ein Amt zu übernehmen? Erst recht im ländlichen Raum, wo die Wege lang sind. Ohnehin sind oft andere Dinge wichtiger: die Enkel, der Wunsch, nach einem Arbeitsleben im engen Korsett von Terminen die Freiheit zu genießen, zu reisen. Mit zunehmendem Alter bremsen zudem Krankheiten das Engagement. Und derzeit stehen durch Corona erst recht andere Fragen im Vordergrund: Wie geht es weiter? Wie bewältige ich den Alltag in der Isolation?
Telefonate gegen Einsamkeit
Gabriele Matysik klingelt deshalb jede Woche bei fünf, sechs GEW-Senioren und -Seniorinnen durch: „Hallo, hier ist deine GEW, na, wie geht es dir?“ Sich austauschen, plaudern, die Sorgen loswerden – „ein ausführliches Telefonat ist ein gutes Mittel gegen Vereinsamung“, sagt die Vorsitzende der Landesseniorenvertretung der GEW Thüringen. Auch der Landesvorstand organisiert sich via Telefonkonferenzen und WhatsApp, über Anträge wird per Telefonkonferenz abgestimmt. Und wenn Ältere im Corona-Alltag Hilfe brauchen, sind die ehrenamtlichen Seniorinnen und Senioren in den Kreisgruppen zur Stelle. Mal nach dem Rechten sehen, mal einkaufen gehen. Matysik: „Man hilft sich gegenseitig.“
Damit sich die älteren Mitglieder auch langfristig bei der GEW aufgehoben fühlen, hat die Arbeitsgemeinschaft „61 plus“ des Landesverbandes Thüringen vor einigen Monaten den Prozess Organisationsentwicklung (OE) „Ältere Mitglieder binden“ gestartet. 2009 sei noch die Mehrheit der Ruheständler in der GEW geblieben, neuerdings entscheiden sich mehr für den Austritt. „Sie sind ausgelaugter vom Job.“ Wer bleibt, suche vor allem die Gewerkschaft als Austauschbörse Gleichgesinnter, Debattenforum und Kummerkasten. „Politische Themen stehen bei den Älteren weniger im Vordergrund“, so Matysik. „Viele haben zu DDR-Zeiten zu viel politischen Druck erlebt.“
„Wir wollen wissen, mit welchen neuen Beteiligungsformen und Themen wir Ältere nachhaltig gewinnen können.“ (Gabriele Matysik)
Im Sommer 2019 hat Matysik die Älteren per Brief nach ihren Erwartungen an die GEW gefragt. Konkrete Vorschläge kamen nicht, aber ein generell positives Feedback: Wir fühlen uns wohl. Nun übt das OE-Team in einem Workshop professionelle Fragetechniken für Telefoninterviews, um Konkreteres herauszufinden. Matysik: „Wir wollen wissen, mit welchen neuen Beteiligungsformen und Themen wir Ältere nachhaltig gewinnen können.“
Das sei „ein richtiger Weg“, sagt SowiTra-Forscherin Pfahl. „Denn die Ehrenamtsforschung zeigt, dass sich überall die Erwartungen an die Mitwirkung geändert haben.“ Auch Ruheständler möchten lieber flexibel in begrenzten Projekten mitarbeiten, statt sich langfristig in Ämter wählen zu lassen. Sie wollen an Themen andocken, die sie aktuell umtreiben, egal ob Geflüchtete oder Klimawandel. Sie möchten ihr Wissen weitergeben und wertgeschätzt werden, zum Beispiel im Mentoring Jüngerer. Pfahl: „Und gerade bei einer Mitmachgewerkschaft wie der GEW kommt es darauf an, dass Ältere auf Augenhöhe anpacken können.“ Als aktiver Teil einer solidarischen Gemeinschaft.