Hamburg und die Drogen: Die Stadt ist aufgrund ihrer Lage am Wasser eines der Einfallstore, durch die verbotene Substanzen in die Bundesrepublik eingeschleust werden. Fast vier Tonnen Kokain stellte der Zoll im vergangenen Jahr in der Hansestadt sicher, ein Rekord. Und egal, wie viel Präsenz die Polizei zeigt, sie verdrängt den Straßenverkauf nur, ohne ihn unterbinden zu können. Die Dealer, die bisher an der Treppe neben der Hafenstraße standen, sind auf die andere Seite der Reeperbahn ausgewichen.
Wie oft, welche und in welchem Umfang Kinder und Jugendliche im Schulalter kiffen, spritzen oder schlucken, erfasst regelmäßig die sogenannte SCHULBUS-Studie. Demnach sind die Jugendlichen im Schnitt 13,5 Jahre alt, wenn sie zum ersten Mal Rauschmittel probieren. Unter den illegalen Substanzen dominiert mit großem Abstand Hasch. Alle anderen Stoffe werden eher ausprobiert als ständig genommen und auch hier nur von einer Minderheit: Weniger als 3 Prozent der Jugendlichen bis 17 Jahre haben schon einmal Ecstasy und Amphetamine probiert, Kokain und „magische“ Pilze kennen keine 2 Prozent, LSD und Methamphetamine weniger als ein Prozent.
„Wenn ein Kind Drogen nimmt, ist das im Einzelfall immer ein Drama.“ (Antje Müller)
In der Gesamtbilanz hätten „Hamburgs Schulen kein Problem mit illegalen Drogen“, sagt Anja Bensinger-Stolze, Landesvorsitzende der GEW im Stadtstaat. „Eine sehr erfreuliche Entwicklung.“ Allerdings erklärten die meisten im Rahmen der SCHULBUS-Studie befragten Lehrkräfte, dass sie nicht sicher erkennen könnten, ob Jugendliche unter Drogen stehen. Und längst nicht alle Lehrkräfte sprechen das Thema an, wenn ein Kind betrunken oder bekifft im Unterricht erscheint.
„Wenn ein Kind Drogen nimmt, ist das im Einzelfall immer ein Drama“, sagt Antje Müller, Vorsitzende der Elternkammer Hamburg. Aber auch sie hält Drogenkonsum nicht für ein Massenphänomen. „Außerdem gibt es zum Glück zahlreiche Hilfen und Angebote in den Stadtteilen“, sagt die Elternvertreterin. „Wir sehen die Schule nicht als die Instanz an, die sich kümmern müsste.“ Eine kleine Unwucht sei, dass die Stadtteilschulen in sogenannten Problemvierteln bei der Suchtprävention vermutlich besser aufgestellt seien als manche Gymnasien in Bezirken mit reicheren Elternhäusern, in denen keine sozialpädagogische Begleitung arbeitet. „Aber wenn wir über Gerechtigkeit und Verteilung von Ressourcen sprechen, finden wir andere Baustellen vorrangig.“
GEW-Landeschefin Bensinger-Stolze sieht eher neue Süchte auf dem Vormarsch, etwa den ständigen Zwang, aufs Smartphone zu starren, oder Essstörungen. Dass harte Drogen an Anziehungskraft verlieren, hat auch mit gewandelten Werten und Moden zu tun: Die Heroin-Ästhetik ist out, Jugendliche wollen sich auf Instagram gesund, fit und sportlich präsentieren. Dazu passt ein weiterer Rekordfund des Hamburger Zolls: 60.000 Einheiten Anabolika und Steroide beschlagnahmten die Beamten im Vorjahr. Die Mittel vergrößern Muskeln, ganz ohne Sport. „Sofa-Steroide“, spottete ein Zöllner.
„Nicht jeder, der regelmäßig kifft oder Ecstasy schluckt, muss stationär behandelt werden.“ (Oliver Voß-Jeske)
Celina nahm keine Sofa-Steroide. Sie war zwölf, als sie mit dem Drogenkonsum anfing. Es begann mit Zigaretten und Alkohol, dann kam Cannabis dazu, später Heroin, Kokain und Ecstasy. „Ich habe Sachen verkauft, meine Eltern beklaut, auch deren Sachen verkauft“, sagt die heute 15-Jährige, ein hübsches Mädchen mit langen, kastanienbraunen Haaren. Den Stoff zu besorgen, fiel leicht: „Man kennt die Leute und die Orte.“ Zu vier bis fünf Dealern hatte Celina Kontakt, einen erreichte sie immer. Die Jugendliche sitzt in der Rehaklinik „Come In“, die am Stadtrand von Hamburg in einem villenartigen ehemaligen Ausflugslokal aus Kaisers Zeiten untergebracht ist. Hierher kommen Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren, um ein Leben ohne Drogen zu lernen. Und hier lernen sie auch wieder zu lernen. Denn die meisten der Kinder, so auch Celina, sind jahrelang nicht zur Schule gegangen: „Drogen waren wichtiger“, sagt sie.
„Nicht jeder, der regelmäßig kifft oder Ecstasy schluckt, muss stationär behandelt werden“, sagt Oliver Voß-Jeske, Leiter des „Come In“. Wer in eines der Doppelzimmer der Klinik einzieht, hat meist einen harten Weg hinter sich und schleppt einen Rucksack voller Sorgen. Oft gleichen sich die Lebensgeschichten. Psychiater Voß-Jeske nennt Stichworte: Zuhause gibt es in der Regel nur einen leiblichen Elternteil, wechselnde Partner und Halbgeschwister. Alkohol und Drogen spielen in vielen Familien eine Rolle. Viele der Kinder sind psychisch auffällig, leiden an Depression, Ängsten, Aufmerksamkeitsstörungen, die teils nicht richtig behandelt oder bereits im Grundschulalter mit Medikamenten gedämpft wurden. Gewalt ist ein Thema. Mädchen haben sie häufig als Opfer erlebt, Jungen sind vielfach auch Täter: „Sie treffen sich, nehmen Aufputschmittel, Speed oder Koks und ziehen los, um sich zu prügeln“, beschreibt Voß-Jeske einen aktuellen Trend. Als das „Come In“ vor einem Vierteljahrhundert entstand, wurden Jugendliche eingewiesen, die als Straßenkinder gelebt, Heroin gespritzt und das nötige Geld mit Prostitution verdient hatten – „diese Gruppe gibt es praktisch nicht mehr“, sagt Voß-Jeske. Typisch sei heute ein Mischkonsum: Cannabis ist die Basis, weitere Substanzen kommen dazu.
„Drogen spielen eigentlich bei allen unserer Klienten eine Rolle“, sagt Benthe Müller, Diplom-Sozialpädagogin und Leiterin der Hamburger Beratungsstelle Off Road Kids, deren weitere Büros in Berlin, Köln und Dortmund liegen. Die Straßenkinder, die sich an Off Road Kids wenden, trinken und kiffen fast alle. Aber es gebe kaum ein Problembewusstsein: „Die meisten sagen: ‚Ich kiff halt, aber ich hab kein Drogenproblem.‘“ Off Road Kids wurde 1993 gegründet, „damit Ausreißer gar nicht erst zu Straßenkindern werden“, sagt Müller. Die Hilfsorganisation, die ohne staatliche Gelder auskommt und sich aus Spenden finanziert, bietet Hilfe ohne Zwang: „Die Jugendlichen müssen selbst etwas wollen.“
„Solange ich weiß, wo ich schlafen kann, wenn ich was zu essen und was zu rauchen habe, ist alles okay.“ (Yoshi)
Früher saßen ganze Gruppen von Straßenkindern am Bahnhof oder in der Fußgängerzone. Heute kommunizieren auch jugendliche Ausreißer per WhatsApp oder Facebook, viele finden auf diesem Weg auch Schlafplätze. Denn unter freiem Himmel kampieren die wenigsten Jugendlichen. Sie sind „Sofahopper“, so heißt auch das Online-Angebot, über das Jugendliche Kontakt zur Beratungsstelle aufnehmen können. Dennoch legt Müller Wert darauf, regelmäßig ihre Runden auf der Straße zu drehen.
Yoshi hockt im Schneidersitz auf einem Trafohäuschen am S-Bahnhof Schanzenstraße, der in einem bunten, studentischen Viertel liegt. Yoshi, schlank, gefärbte Haare, Jeans und T-Shirt, lässt ein Plastikeimerchen an einer Schnur vor den Nasen von Passanten pendeln, damit sie Geld einwerfen. Müller schaut zu dem Jugendlichen auf. „Alles in Ordnung, geht es dir gut?“ Sie kennt die Jugendlichen seit Jahren, stellt immer wieder dieselben Fragen. Irgendwann finden viele den Weg in die Beratungsstelle. Mal geht es darum, eine Wohnung zu organisieren, mal um gesundheitliche Probleme, Schulden oder einen Neustart in Lehre oder Schule. Jugendliche, die das Schulalter überschritten haben, schaffen das teilweise über eine Fernschule.
Yoshi braucht an diesem Tag nichts: „Solange ich weiß, wo ich schlafen kann, wenn ich was zu essen und was zu rauchen habe, ist alles okay.“ Ein Regenguss setzt ein, Müller stellt sich zu einer Gruppe Obdachloser, die unter dem Vordach eines Kiosk Schutz gesucht hat. Die meisten sind erwachsen, aber auch ein schmaler Jugendlicher steht dabei. Müller schenkt ihm eine Tasche, in der Hygieneartikel und Kondome stecken – „Streetwork plus“ heißt dieses Programm, das von einer Krankenkasse finanziert wird. „Gesundheitsvorsorge wird immer wichtiger“, sagt Müller. „Das begleitet uns in der ganzen Arbeit.“
Schockmoment nötig
Um den Weg in eine Therapie zu finden, braucht es häufig einen Schockmoment – wie bei dem jungen Mann, den Müller nahe dem Hauptbahnhof trifft. Er sitzt im Rollstuhl, ein Bein wurde amputiert. Jetzt sei er auf einem guten Weg, meint er. Eine Wohnung sei in Aussicht. Auch Celina erlebte so einen Schockmoment. Bei der Geburtsfete einer Freundin brach sie nach einer Überdosis Ecstasy zusammen. „Ich wusste nicht, wo ich war“, erinnert sie sich an das Aufwachen in der geschlossenen Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig. Ein furchtbares Gefühl der Hilflosigkeit und Schwäche: „Das war nicht geplant gewesen.“ Seit knapp drei Monaten lebt sie im „Come In“. Der Aufenthalt wird meist von der Krankenkasse bezahlt und dauert in der Regel acht Monate. Nach der Zeit will sie nicht zurück nach Hause, aus Angst in der alten Umgebung wieder mit den Drogen anzufangen. Zwei Ziele hat sie jetzt: den Hauptschulabschluss machen und Fotografin werden. Ihre Kamera war der einzige Wertgegenstand, den sie in ihrer Drogenzeit nicht verkauft hat.
Sozialpädagogin Müller beendet ihre Runde auf der Reeperbahn, einige Hundert Meter weit weg von der Treppe, die immer noch von der Polizei bewacht wird. Auf dem Gehsteig vor einem Sexkino sitzt eine Gruppe junger Männer und Frauen. Die Streetworkerin begrüßt eine der Frauen: Sie hat als Obdachlose eine Lehre begonnen, inzwischen eine Wohnung gefunden – ein gutes Ende einer langen Karriere auf der Straße. Aber die Kontakte zu ihren alten Bekannten von der „Platte“ sind geblieben. Die Stimmung in der Gruppe ist gelöst. Einer der Männer dreht einen Joint, der gleich von Hand zu Hand geht.