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GEW-Studie: Wider dem Neoliberalismus

Mit ihrer Studie zur Bildungsfinanzierung macht sich die GEW für mehr Geld für Bildung stark. Der Wirtschaftsjournalist Markus Sievers stellt die Kernthesen der Untersuchung des Politologen Tobias Kaphegyi vor.

Seit Jahren verfolgt die Bundesregierung kein Ziel so konsequent und beharrlich wie die Schwarze Null im Bundeshaushalt. Den Sinn dahinter scheinen die Menschen aber nicht so recht erfasst zu haben. "Diese Finanzpolitik zahlt sich für die Menschen aus", rechtfertigt daher Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die einseitige Ausrichtung. Und blendet damit nach Ansicht seiner Kritiker die massiven Defizite in der Infrastruktur und gerade in der Bildung aus, die er den heute lebenden Menschen aufbürdet und den künftigen Generationen hinterlässt.

Mit dieser Ideologie, die seit langem die Wirtschaftspolitik dominiert, setzt sich Kaphegyi in seiner Studie "Bildungsfinanzierung. Weiter denken: Wachstum, Inklusion und Demokratie" grundlegend auseinander. Für diese Debatte liefert der Politologe und Kulturwissenschaftler im Auftrag der GEW wissenschaftlich fundierte Argumentationsketten. Die Studie präsentiert damit die Alternative zu der herrschenden Politik, für die Schäubles Schwarze Null beispielhaft steht.

"Alle Verbesserungen im Bildungsbereich, seien es Gruppen- und Klassengrößen, moderne Räume und die digitale Ausstattung oder die Arbeitsbedingungen und Einkommen der Beschäftigten kosten Geld", konstatiert GEW-Vorsitzende Marlis Tepe in ihrem Vorwort. Daher stellt Kaphegyi, wie Tepe betont, "den Zusammenhang zwischen der Wirtschafts- und Steuerpolitik, der Bildungsfinanzierung und der gesellschaftlichen Entwicklung dar".

Demokratische Vernunft

Der Autor präsentiert zunächst das demokratische Konzept, das den politischen Forderungen der GEW zugrunde liegt. Er nennt es die "unteilbare demokratische Vernunft". Die zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie Menschenrechte nicht allein als Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit versteht. In diesem umfassenden Sinn muss Politik mehr gewährleisten, um Freiheit und Demokratie zu sichern. Sie hat auch die Aufgabe, Menschen aus der Armut zu befreien, ihnen die ökonomische Unsicherheit zu nehmen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, allen Bildung zu ermöglichen und einen angemessenen Gesundheitsschutz zu bieten. In diesem Verständnis gehören politische, bürgerliche und soziale Menschenrechte untrennbar zusammen.

Damit grenzt Kaphegyi das Konzept klar ab von liberalen oder wirtschaftsliberalen Ansätzen, die Menschenrechte eng vor allem als Abwehrrechte gegen einen übergriffigen Staat definieren. Diese Sicht ist noch immer verbreitet, obwohl sie historisch gesehen den Stand aus der Zeit der Aufklärung widerspiegelt. Geschichtswissenschaftler sprechen von den Menschenrechten der ersten Generation, die später ergänzt wurden durch Anspruchs- und Teilhaberechte, z.B. auf soziale Sicherheit, bezahlte Arbeit und gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit - und eben auch das Recht auf Bildung und Ausbildung.

Bei der unteilbaren demokratischen Vernunft geht es daher um mehr als den Schutz vor staatlichen Übergriffen. Der ist zwar zwingend, reicht aber nicht. Deshalb erfasst die demokratische Vernunft auch die gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzungen, die allen die freie und vollständige Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht. Dieses Konzept hat der Gewerkschaftstag von 2013 unterstützt, in dessen Verlauf die GEW ihre Forderung nach einer umfassenden Verwirklichung des Menschenrechts auf Bildung bekräftigte.

All dies ist eine zwingende Konsequenz aus den desaströsen Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte, wie Kaphegyi darlegt. Während in den USA in den 1930er Jahren die Politik des New Deal mit ihren sozialen und die Wirtschaft stabilisierenden Elementen einen Rechtsruck verhinderte, setzte sich in Deutschland das durch, was in Anlehnung an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer "Instrumentelle Vernunft" genannt werden kann. Als ein Beispiel von vielen gilt die Austeritätspolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrumspartei) am Ende der Weimarer Republik. Dieser Begriff umschreibt die massiven Kürzungen und Einsparungen, die in Deutschland die wirtschaftliche, soziale und politische Krise verschärften und so letztlich den Nationalsozialisten den Weg an die Macht ebneten. Kaphegyi erinnert in diesem Zusammenhang an die Arbeiten des Wirtschaftshistorikers und Soziologen Karl Polanyi. Der hat 1944 in seinem Werk "The Great Transformation" vor allem am Beispiel Großbritanniens herausgearbeitet, welch zerstörerische Kraft die einseitige liberale Marktwirtschaft in der Geschichte entfaltet hat und wie sie damit Gegenbewegungen provoziert.

Freie Marktwirtschaft

So als gebe es dieses Wissen aus der Geschichte nicht, trat vor 40 Jahren die Ideologie vom Segen der reinen, freien Marktwirtschaft ihren erneuten Siegeszug an. Die neoliberale Wende ging von Großbritannien unter Premierministerin Margaret Thatcher und den USA mit Ronald Reagan als Präsidenten aus und breitete sich international aus. Sie erfasste auch Deutschland. Als Ursprung der neoliberalen Wende in der Bundesrepublik macht der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge das Papier von Otto Graf Lambsdorff aus dem Jahr 1982 aus, in dem der damalige Wirtschaftsminister und FDP-Politiker massive Sozialkürzungen und einen drastischen Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben forderte. Vieles setzte die spätere Regierung von Helmut Kohl (CDU) um.

Den Höhepunkt erlebte diese, der demokratischen Vernunft diametral entgegen stehende Ideologie in Deutschland laut Butterwegge aber erst mit der Agenda 2010. Das zentrale Motto laute: Der Wohlfahrtsstaat sei nur zu retten, wenn er beschnitten wird. Jahrelang bestimmten zähe Debatten über den Standort Deutschland und seinen angeblich unaufhaltsamen Niedergang den öffentlichen Diskurs. Und es blieb nicht bei Worten. Durch entsprechendes politisches Handeln steigerte die Bundesrepublik ihre Wettbewerbsfähigkeit weiter und stellte einen Ausfuhrrekord nach dem anderen auf. Mit diesem Exportmodell gelang es, auf Kosten anderer Länder eine auf den ersten Blick gute wirtschaftliche Entwicklung hinzulegen. Doch auch in dem scheinbaren Musterland lebt jedes siebte Kind in Haushalten, die auf Hartz IV angewiesen sind. Der Niedriglohnbereich hat sich ebenso massiv ausgeweitet wie die prekären Beschäftigungsverhältnisse. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten kann laut Kaphegyi eine junge Generation nicht mehr das Einkommens- und Sicherheitsniveau ihrer Eltern erreichen.

Die unteilbare demokratische Vernunft befindet sich in der Defensive, obwohl die Bilanz des konkurrierenden Modells alles andere als überzeugend ausfällt, wie Kaphegyi feststellt: "Über 40 Jahre sich schleichend steigernde, neoliberale Marktsteuerung und das Zurückdrängen des Wohlfahrtsstaats haben in fast allen Ländern ihre Versprechungen von zunehmendem Wachstum und Wohlstand der Bevölkerung nicht erfüllt." Kaphegyi führt weitere Belege für die desaströsen Ergebnisse dieses Politikverständnisses an. Weltweit waren nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so viele Menschen auf der Flucht wie heute. 2008 erlebten wir die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, ausgelöst von den deregulierten Finanzmärkten. "Nur durch das vielgescholtene staatliche Eingreifen konnte der Kapitalismus vor einem Kollaps des Bankensystems mit unkalkulierbaren Folgen bewahrt werden", merkt der Wissenschaftler süffisant an.

Wohlfahrtsstaat aufbauen

Als Lösung stellt er ein Modell für den Wiederaufbau des Wohlfahrstaates vor. Dieses setzt darauf, die staatlichen Ausgaben massiv zu erhöhen - nicht  nur, aber vor allem im Bildungssektor. Zu den Kosten einer solchen Kehrtwende hat die GEW eigene Berechnungen angestellt. Dass diese Ausgaben zu schultern sind, zeigt das Steuerkonzept der Gewerkschaft, das auf mehr Verteilungsgerechtigkeit und höhere Einnahmen für die öffentlichen Kassen abzielt. Als Kernelemente des Konzepts der demokratischen Vernunft zählt Kaphegyi unter anderem auf, dass die unteilbaren Menschenrechte Vorrang haben vor der instrumentellen Vernunft des kapitalistischen Systems, eine Umverteilung zugunsten der Benachteiligten für mehr ökonomische und machtpolitische Gleichheit sorgt, eine soziale Daseinsvorsorge Lebensrisiken absichert und gebührenfreie Bildung die "Vererbung von kulturellem Kapital" aufbricht.

Die Studie weist nach, dass die Abkehr von der neoliberalen Ideologie machbar ist - und nicht als Träumerei diskreditiert werden kann.