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E&W Schwerpunkt: Bildung von Migrantinnen

Journalistinnen, Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen mit Migrationshintergrund stellen im Schwerpunkt Probleme, Analysen und Schlussfolgerungen vor. Das Ergebnis ist ein Beitrag zum integrations- und bildungspolitischen Diskurs, der Türen zu neuen Perspektiven öffnen soll.

Fatima, Hakima, Gonca, Iclal und Ebru – fünf Bildungswege in Deutschland

Die Bildungswege von fünf jungen Frauen aus muslimischen Familien – Fatima, Hakima, Gonca, Iclal und Ebru – zeigen: Sie sind hoch motiviert, ehrgeizig und bildungsbewusst. Ihre Eltern unterstützen die Karriereplanung.

„Kopftuch macht nicht dümmer“

Als Neuntklässlerin beschloss Fatima, ihr Haar zu verhüllen. Das ist vier Jahre her, die Tochter marokkanischer Zuwanderer ist dabei geblieben. „Mich hat wirklich niemand dazu gezwungen“, sagt sie. Im Gegenteil: Ihre Eltern hätten ihr Probleme in Ausbildung und Beruf prophezeit und vom Kopftuch abgeraten. Die Gymnasiastin blieb hartnäckig, nahm in der Oberstufe sogar den Streit mit der Direktorin in Kauf. In diesem Frühsommer macht Fatima das Abitur. Was danach kommen wird, weiß die Schülerin nicht. Medizin würde sie gerne studieren, glaubt aber nicht, dass ihre Abiturnote dafür ausreicht. „Studieren will ich aber auf jeden Fall“, sagt die 19-Jährige. Ein Leben wie ihre Mutter – „nur Kinder großziehen und sich um den Haushalt kümmern“ – möchte sie nicht. Das muss sie auch nicht, ihre Familie erwartet von ihr, dass sie Akademikerin wird. „Weil sie es selbst nicht sind“, mutmaßt Fatima.

Als junger Mann kam ihr Vater vor fast vier Jahrzehnten nach Frankfurt am Main und holte ein paar Jahre später seine Braut aus Marokko. „Meine Mutter war 15, mein Vater 23, als sie heirateten“, erzählt die Gymnasiastin. Sie weiß, dass das frühe Heiratsalter der Mutter hier Verwunderung auslöst, daher schiebt sie eine Erklärung nach: „Das ist in Marokko nicht ungewöhnlich.“ Einen Schulabschluss hat ihre Mutter nicht, immerhin durfte sie die Grundschule besuchen. Heute ist sie 47 Jahre alt und Hausfrau, während der Vater als Hilfsarbeiter für das Familieneinkommen sorgt.

Fatimas Eltern sind religiös. Insofern freuen sie sich über die Entscheidung der Tochter fürs Kopftuch, doch sie sind auch besorgt, weil sie Nachteile für Fatima fürchten. Den Eltern ist wichtiger, dass ihre Tochter beruflich vorankommt als dass sie auf ihrer Verhüllung beharrt. Die Schülerin wiederum möchte darauf nicht verzichten und hofft, dass sie später nicht zwischen Arbeitsplatz und religiösen Prinzipien entscheiden muss. „Mein Kopftuch macht mich doch nicht dümmer“, sagt sie. Über ihre Leistungen möchte Fatima beurteilt werden – nicht nach ihrem Aussehen.

„Besseres Leben für die Kinder“

Das möchte auch Hakima, trotzdem hat sie nach ihrer pharmazeutisch-kaufmännischen Ausbildung auf das Kopftuchtragen verzichtet. Um Konflikte am Arbeitsplatz – eine Apotheke im Frankfurter Stadtteil Nordend – zu vermeiden. Hakimas Eltern stammen ebenfalls aus Marokko. Ihre Mutter ist Analphabetin und Hausfrau, ihr Vater arbeitet bei einer Reinigungsfirma. Die 23-Jährige erzählt davon, dass die Eltern Wert auf ihre Ausbildung gelegt hätten. „Sie sind doch hierher gekommen, damit ihre Kinder ein besseres Leben haben“, erklärt Hakima. Schon allein, um die Eltern nicht zu enttäuschen, habe sie sich in der Schule angestrengt.

Nicht enttäuschen möchte Hakima Mutter und Vater auch mit der Wahl des Ehemanns. Aber auch unabhängig von der Erwartung der Familie wolle sie keinen Deutschen, sondern wegen der emotionalen Nähe einen Mann aus ihrer Herkunftskultur. „Ich möchte einen Partner, mit dem ich die Zukunft planen kann, der es mir ermöglicht, in meinem Beruf zu bleiben.“ Jemanden, der sie nur zuhause haben wolle, könne sie nicht lieben. „Ich habe doch nicht einen Beruf erlernt, um nur Kinder großzuziehen. Das ist kein Leben für mich“, meint Hakima. „Es ist doch beides zu vereinbaren, Kind und Karriere.“

„Hoch motiviert und begabt“

Über Kinder und Familie denkt Gonca nicht nach. Gedanken über ihre berufliche Karriere macht sich die Elfklässlerin aber doch. Auch gemeinsam mit ihren Eltern, die beide Anfang 40 sind und in der Türkei aufwuchsen. Wenn die Familie zusammensitzt, ist der künftige Beruf der 17-Jährigen immer wieder ein Gesprächsthema. „Hauptsache sie studiert und hat einen angesehenen Beruf“, sagt der Vater. Und so denkt auch Goncas Mutter, die als so genannte „Import-Braut“ nach Deutschland kam.

Die Gymnasiastin hatte im letzten Zeugnis einen Notendurchschnitt von 1,5. Sie sei „hoch motiviert und begabt“, attestierten ihr die Lehrkräfte und schlugen sie für ein Stipendium der Start-Stiftung – ein Projekt der gemeinnützigen Hertie-Stiftung – vor, die Schüler aus Einwandererfamilien fördert. Bis zum Abitur wird Gonca von der Stiftung unterstützt. Darüber freut sich die Familie, denn der Vater ist arbeitslos, die Mutter hat ebenfalls keinen Job. Auch wenn ihre Eltern bei den Hausaufgaben kaum helfen können: Moralische Unterstützung erhält die 17-Jährige von beiden. Gonca ist ehrgeizig und verbringt viele Stunden am Schreibtisch. Sie will das Abitur mit einer Top-Note schaffen. Wenn sie später als Chirurgin arbeiten wolle, „dann muss das sein“, stellt Gonca nüchtern fest. Ihrem Vater ist das nur recht, denn er will, dass seine Tochter einmal „auf eigenen Füßen steht“.

„Ich konnte trotz Kind studieren“

Karriere und Kinder, wie es sich Hakima wünscht, konnte Iclal Görgülü vereinbaren – mit Hilfe ihrer Eltern, versichert die Tochter türkischer Einwanderer. Der Weg der 40-Jährigen verlief aber nicht geradlinig: Nach dem Abitur wurde sie Mutter, kurze Zeit später ging ihre Beziehung in die Brüche. „Ich konnte aber trotz Kind studieren, weil sich meine Mutter um meinen Sohn gekümmert hat“, erzählt Iclal Görgülü. Sie wählte die Studienfächer, in denen sie schon in der Schule gut war: Mathematik und Englisch. 1998 unterbrach sie nach dem ersten Staatsexamen ihr Studium, weil sie ein zweites Kind bekam. Mittlerweile arbeitet Iclal Görgülü in Frankfurt an einer Integrierten Gesamtschule und unterrichtet in den Klassen fünf bis zehn die Fächer Englisch, Mathematik und Gesellschaftslehre.

Die Lehrerin hat etliche türkischstämmige Schüler und Schülerinnen. Sie berichtet davon, dass deren Eltern alle sehr interessiert am schulischen Erfolg ihrer Kinder seien. Auch wenn in der Öffentlichkeit immer wieder das Gegenteil behauptet werde. Oftmals wüssten die Eltern aber nicht, wie sie ihre Kinder am besten unterstützen könnten. Für das schulische Scheitern von Jungen und Mädchen aus Zuwandererfamilien macht die Pädagogin vor allem „strukturelle Probleme“ des Schulsystems verantwortlich. Weder Fatima, Hakima noch Gonca oder Iclal passen in das gängige Bild junger Frauen aus muslimischen Familien. Ist von ihnen die Rede, dann zumeist davon, dass ihre Eltern sie in ihrer Selbstverwirklichung behinderten, ihre Familien kein Interesse an ihrem beruflichem Werdegang zeigten. Ausnahmen sind die vier jedoch keineswegs – auch wenn das Vorurteil über diese Gruppe hartnäckig fortbesteht. Dazu tragen Medienberichte über Einzelschicksale bei, ebenso wie eine verbreitete Generalisierung individueller Biografien unterdrückter muslimischer Frauen. Gegen dieses Negativklischee kommt selbst die Wissenschaft nicht an, die ganz andere Erkenntnisse zu Tage fördert – wie etwa die Untersuchung „Viele Welten leben“ aus dem Jahr 2004 (s. auch Seite 12) oder eine Studie des Zentrums für Türkeistudien aus 2006*. Dass türkische Väter sich für ihre Kinder – und zwar unabhängig vom Geschlecht – einen höheren Schulabschluss erhoffen und versuchen, diesen auch zu ermöglichen, geht bereits aus früheren Befragungen hervor. Drei Viertel der türkischen Eltern gaben für eine 1985 veröffentlichte Erhebung an, hohe Bildungserwartungen an die Zukunft ihrer Kinder zu haben. Mehr als die Hälfte von ihnen wünschte sich einen akademischen Beruf für ihre Söhne und Töchter**.

Sozialer Aufstieg für die Familie


„Die Schulbildung der Kinder gilt als Mittel des sozialen Aufstiegs der gesamten Familie“, erklärt Ebru Tepeçik. Die türkischstämmige Diplompädagogin promoviert zum „Bildungsaufstieg von Studierenden türkischer Herkunft“. Ihre Befunde weisen auf eine sehr positive Einstellung zur Bildung türkischstämmiger Familien hin. Diese sei eine der wichtigsten Voraussetzungen für den akademischen Werdegang der Kinder.

„Ich höre von Studentinnen immer wieder, dass ihre Mütter ihnen den Rücken freigehalten hätten, damit sie sich ihren Schularbeiten widmen konnten“, sagt die Doktorandin. Auch ihr sei eingeimpft worden, dass sie studieren müsse, berichtet die 35-Jährige, die selbst aus einer „Gastarbeiterfamilie“ stammt. Gerade Mütter, die Analphabetinnen sind, sorgten zuhause für eine „bildungsfördernde Atmosphäre“.

Defizitorientierter Blick


Auf die Mehrfachdiskriminierung von Mädchen aus muslimischen Familien in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt weist Ayten Kiliçarslan hin. Die 42-Jährige ist im Ditib-Vorstand, dem größten Dachverband der Muslime in Deutschland. Wer wie sie ihren muslimischen Glauben für andere sichtbar, also mit Kopftuch, praktiziert, sei dreifach benachteiligt – „als Frau, als Migrantin und als Muslima“. Ayten Kiliçarslan weiß, wovon sie spricht: Die Diplompädagogin ist in Deutschland aufgewachsen, hat hier studiert und arbeitet im Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen in Köln. Dort leitet sie das Frauenbildungswerk, das neben Deutsch- und Integrationskursen auch Seminare zur politischen Bildung und externe Schulabschlüsse für Frauen anbietet.

Auf die Mehrfachdiskriminierung von Mädchen aus muslimischen Familien in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt weist Ayten Kiliçarslan hin. Die 42-Jährige ist im Ditib-Vorstand, dem größten Dachverband der Muslime in Deutschland. Wer wie sie ihren muslimischen Glauben für andere sichtbar, also mit Kopftuch, praktiziert, sei dreifach benachteiligt – „als Frau, als Migrantin und als Muslima“. Ayten Kiliçarslan weiß, wovon sie spricht: Die Diplompädagogin ist in Deutschland aufgewachsen, hat hier studiert und arbeitet im Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen in Köln. Dort leitet sie das Frauenbildungswerk, das neben Deutsch- und Integrationskursen auch Seminare zur politischen Bildung und externe Schulabschlüsse für Frauen anbietet.

Mädchen aus muslimischen Familien traue man nicht viel zu, fasst Kiliçarslan ihre persönlichen und die Erfahrungen aus ihrem Umfeld zusammen. Wie die Wissenschaftlerin Tepeçik und die Pädagogin Görgülü beklagt sich Kiliçarslan darüber, dass in der Debatte um Schule und Bildung das Negative zu sehr in den Vordergrund gerückt werde. Der defizitorientierte Blick wiederum wirkt sich auf den Bildungserfolg von Migrantenkindern aus. Das geht aus einer Untersuchung der Arbeitsstelle für Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung*** hervor. „Negative Stereotype, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mit geringen intellektuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen, können die schulischen Leistungen und die Schulkarrieren von Schülerinnen und Schülern, die einen Migrationshintergrund haben oder ethnischen Minderheiten angehören, sowohl kurz- als auch langfristig beeinträchtigen“, heißt es darin. Als Ort dieses „real existierenden Phänomens“ lokalisieren sie das Klassenzimmer.



Editorial


„Dreifache Benachteiligung“ – und „Nichts Neues – Migranten bleiben in Deutschlands Schulen zurück“, titelte E&W in dem PISA-IGLU-Schwerpukt 1/2008. Die internationalen Vergleichsstudien PISA und IGLU 2006 bestätigen erneut den Skandal deutscher Integrations- und Bildungspolitik: Kinder und Jugendliche mit einer Migrationsgeschichte schneiden bei den Leistungsvergleichen sehr viel schlechter ab als Gleichaltrige deutscher Herkunft. Besonders erschreckend: Die „zweite Migrantengeneration“ erzielt noch einmal signifikant schlechtere Ergebnisse als die erste. Woran liegt das? „Schicht- und sprachbedingte Nachteile verursachen Leistungsunterschiede bei den Schülern, die zudem noch durch die frühe und nicht einmal leistungsorientierte Verteilung von Kindern auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge vergrößert werden: Damit sind Kinder mit Migrationshintergrund einer dreifachen Benachteiligung ausgesetzt“, erklärt der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm. Fest steht aber auch, dass in der öffentlichen Debatte die Migrantinnen und Migranten selten zu Wort kommen. Es wird über sie geschrieben. E&W will in diesem Mainstream nicht mitschwimmen, ermöglicht einen Wechsel des Blickwinkels: Journalistinnen, Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen mit Migrationshintergrund stellen im Schwerpunkt Probleme, Analysen und Schlussfolgerungen vor. Das Ergebnis ist ein Beitrag zum integrations- und bildungspolitischen Diskurs, der Türen zu neuen Perspektiven öffnen soll.

Migrantinnen sind mehr wert!

GEW-Kommentar zum Internationalen Frauentag


Junge Frauen aus zugewanderten Familien bleiben öfter ohne Schulabschluss und bekommen seltener einen betrieblichen Ausbildungsplatz als junge Deutsche. Betroffen sind vor allem Musliminnen. Das DGB-Motto des Frauentages 2008 lautet: „Ich bin mehr wert.“ Und das gilt ganz besonders für Frauen, die unterschätzt und benachteiligt werden.

Deutschland ist noch weit entfernt, allen eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Das belegen die PISA-Studie 2006, der OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2007“ und der „7. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“ der Bundesregierung. Laut Ausländerbericht hatten 2005 knapp sieben Prozent der 20- bis 24-jährigen Frauen aus Migrantenfamilien keinen Schulabschluss. Das sind drei Mal so viele wie gleichaltrige Frauen ohne Migrationshintergrund. Diese Ausgrenzung setzt sich auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt fort.

Die Bewerberbefragungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) 2004 und 2006 unterstreichen, dass junge Frauen mit Migrationshintergrund bei der Ausbildungsplatzsuche sehr engagiert und flexibel sind. Sie nutzen die gleichen Bewerbungsstrategien wie Frauen ohne Migrationshintergrund. Unterschiede gibt es nur in wenigen Punkten: Junge Menschen aus Zuwandererfamilien bewerben sich seltener außerhalb der Region und beraten sich weniger mit ihren Eltern. Vor allem aber werden sie seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen als Einheimische.

Auch bei gleichen schulischen Voraussetzungen – gute Mathenote, Realschulabschluss oder Abitur – haben Migrantentöchter schlechtere Karten bei der Lehrstellensuche als ihre deutschstämmigen Mitbewerberinnen. Nur jede fünfte im Alter von 18 bis 21 Jahren schaffte 2006 den Sprung in den Betrieb. Die Ausbildungsbeteiligungsquote junger deutscher Frauen lag dagegen mit rund 46 Prozent mehr als doppelt so hoch. Besonders benachteiligt sind laut BIBB Jugendliche mit türkischen und arabischen Eltern. Die Konzentration auf wenige typisch weibliche Ausbildungsberufe ist bei Mädchen mit ausländischem Pass zudem ausgeprägter als bei Einheimischen.

Die Ursachen für die Chancenungleichheit sind nicht abschließend geklärt. Mona Granato vom BIBB spricht von einem Verdrängungsprozess in Zeiten der Lehrstellenknappheit. Die Erfahrungen der vom Bundesbildungsministerium geförderten „Beruflichen Qualifizierungsnetzwerke zur Förderung der Chancengleichheit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ geben – so die Bildungsforscherin – Hinweise darauf, dass junge Menschen aus Zuwandererfamilien vorzeitig bei der Bewerberauswahl aussortiert werden.

Die logische Konsequenz der Benachteiligung im Bildungssystem auf Schule und Ausbildungsmarkt: Über 40 Prozent der 25- bis 34-jährigen Frauen mit Migrationshintergrund haben laut Bildungsbericht 2006 keinen Berufsabschluss. Vor allem türkische Jugendliche gehen ohne eine formale Qualifikation von der Schule ab. Entsprechend gering sind die Chancen auf einen Job.

„Ich bin mehr wert“ bedeutet, die Stärken – Sprachen und interkulturelle Kompetenzen – der Frauen mit Migrationsgeschichte hervorzuheben. Das DGB-Motto meint aber auch Gleichwertigkeit. Es gilt, die Diskriminierungsmechanismen in Schule, Ausbildung und Beruf zu beseitigen. Das setzt voraus, dass Menschen – unabhängig von Herkunft und Geschlecht – vorurteilsfrei und differenziert wahrgenommen werden.

Interview mit Rechtsanwältin Seyran Ates

E &W: Frau Ates¸, Lehrer haben oft den Eindruck, dass türkischstämmige Eltern sich nicht für die schulischen Belange ihrer Kinder interessieren. Wie erklären sie sich das?
Seyran Ates: Familien aus der Türkei haben mehrheitlich einen hohen Respekt vor Bildung. Es gibt aber Eltern, die keine Vorstellung davon haben, was in einer deutschen Schule tatsächlich passiert. Sie glauben, dass ihre Kinder hier moralisch verdorben würden...

E &W: ... daher freuen sich solche Eltern über den Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der sich kürzlich für türkische Schulen und Universitäten in Deutschland ausgesprochen hatte. Was halten Sie von dieser Idee?
Ates: Sie ist absurd und würde nur Parallelgesellschaften fördern und festigen. Erdogan kennt die Situation in Deutschland offensichtlich nicht richtig. Wer in dieser globalisierten Welt, in der sich Grenzen auflösen, nationale Identität und Nationalstolz hervorhebt, der ist nicht glaubwürdig. Erdogans Vorschlag ist zudem zynisch, weil er selbst ein Land regiert, das die Sprache und Kultur einer Minderheit, nämlich der Kurden, unterdrückt.

E &W: Kehren wir zur Situation an deutschen Schulen zurück: Was können Lehrer machen, wenn etwa Schülerinnen nicht mit auf Klassenfahrt dürfen?
Ates: Zum Beispiel mit einer Begleitperson, die über eine entsprechende kulturelle Kenntnis und die nötigen Sprachkenntnisse verfügt, die Eltern aufsuchen. Viele Eltern halten die westliche Kultur für dekadent. Sie befürchten, dass auf einer Klassenreise viel Alkohol fließt, dass die Schüler machen dürften, was sie wollten, Jungen und Mädchen in einem Saal schliefen und miteinander sexuellen Kontakt hätten. Solche Familien besitzen sehr wenig oder gar keine Informationen darüber, dass Lehrer auf einer Klassenfahrt Kontrolle ausüben und wachsam sind.

E &W: Was können Pädagogen vor einer Klassenfahrt tun?
Ates: Sie sollten sich Zeit für ein behutsames Gespräch nehmen und die Eltern mit ihren Ängsten konfrontieren. Dann kann es eventuell gelingen, ihnen diese zu nehmen. Die Familien begreifen so eher, dass ihre Phantasien über mögliche „Orgien“ unbegründet sind. Man muss den Eltern jedoch den Sinn von Klassenreisen erklären. Vorurteile lassen sich in den meisten Fällen durch einen intensiven Kontakt abbauen. Für eine solche Elternarbeit bräuchten Lehrkräfte Unterstützung und Zeit. Natürlich gibt es orthodoxe, streng religiöse Eltern, die wird man kaum überzeugen können, doch ein Versuch lohnt sich immer.

E &W: Wie sollten Lehrer reagieren, wenn Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien unregelmäßig am Unterricht teilnehmen oder Probleme im Elternhaus haben?
Ates: Auf jeden Fall sollten sie das Gespräch mit der Familie suchen. Sie dürfen vor allem nicht die Hände in den Schoß legen und darauf hoffen, dass Eltern bei Konflikten in die Schule kommen. Solche Eltern kommen nicht! Notfalls müssen das Jugendamt und die Familienhilfe eingeschaltet werden. Die Schule ist gerade für Mädchen und Jungs aus traditionellen muslimischen Familien ein sehr zentraler Ort. Im Grunde der einzige, an dem sie andere Lebensentwürfe kennenlernen können. Deshalb trägt diese Institution ihnen gegenüber auch eine große Verantwortung. Hilfesuchende Mädchen müssen hier Ansprechpartner und Unterstützung finden. Das bedeutet aber keine Rundumbetreuung. Das wäre eine Überforderung der Pädagogen. Schülerinnen in Not sollten jedoch an entsprechende Hilfseinrichtungen verwiesen werden.

E &W: Welche Möglichkeiten haben Lehrerinnen und Lehrer, Mädchen zu schützen, wenn diese ihnen mitteilen, dass sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollen?
Ates: Sie sollten unbedingt das Jugendamt informieren. Ich habe immer wieder Schülerinnen und junge Frauen beraten, die über ihre Rechte informiert werden wollten. Die wissen wollten, wie sie es schaffen können, ihr eigenes Leben zu leben, ohne mit der Familie ganz zu brechen. Ich habe diesen jungen Frauen oft geraten, dass sie zunächst einmal mit ihren Familien brechen müssen. Wenn sie merken, dass ihnen die Zwangsehe droht und trotzdem im Elternhaus bleiben, haben sie keine Chance zu entkommen. Die Eltern werden ihre Manie, durch die Zwangsheirat Gutes zu tun, nicht aufgeben, sofern sie keinerlei Konsequenzen spüren. Erst wenn ihre Tochter wirklich weg ist, begreifen sie möglicherweise das Geschehene. Erfahrungsgemäß nähern sich Familienmitglieder auch wieder an.


E &W: Dabei entsteht in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck, türkische Eltern liebten ihre Kinder nicht...
Ates: Die Deutschen gehen von einer falschen Annahme aus. Nur weil Eltern konservativ oder orthodox sind, bedeutet es nicht, dass sie keine Zuwendung oder Liebe für ihre Kinder empfinden. Sie haben lediglich eine andere Vorstellung von Fürsorge. Selbst wenn Eltern ihre Töchter zur Heirat zwingen, haben sie dabei kein Unrechtsbewusstsein. Sie sind überzeugt, ihrer Tochter etwas Gutes zu tun. Andererseits muss man auch akzeptieren, dass die Mädchen ihre Familien ungern verlassen möchten, weil diese eben nicht „böse“ sind.
Ich bekomme in diesem Zusammenhang immer wieder E-Mails von jungen Frauen und Schülerinnen. Die meistgestellte Frage lautet: Wie kann ich meinen Wunsch nach einem eigenen Lebensstil erfüllen, ohne mich mit meiner Familie zu überwerfen?


E &W: Was könnte ein Zusammenleben von Deutschen und Türken langfristig verbessern?
Ates: Die Kindergartenpflicht ab drei Jahren zum Beispiel. Damit wäre ein frühzeitiger Zugang zur deutschen Sprache ermöglicht und die Jüngsten würden andere Geschlechterrollen und Lebensmodelle kennenlernen. Multikulturalität – die Differenz der Kulturen – sollte außerdem in der Schule viel stärker Gegenstand des Unterrichts sein. Dann wäre die multikulturelle Gesellschaft für Heranwachsende eine größere Selbstverständlichkeit. Und: Bildungseinrichtungen sollten Mehrsprachigkeit intensiver fördern als bisher. Denn das Allerschlimmste in einer Einwanderungsgesellschaft sind ethnisch und sprachlich abgeschottete Gruppen. Deshalb plädiere ich für eine viel größere Mischung der sozialen und ethnischen Gruppen in Kitas, Schulen und Stadtteilen.

Studie: keine Bildungsbenachteiligung durch das Elternhaus

Junge Migrantinnen in Deutschland zeigen einen hohen Bildungswillen, der sich in ihren Schulabschlüssen widerspiegelt. Ein Drittel erwirbt den Realschulabschluss und nahezu ein Fünftel die Hochschulreife. Dennoch scheitern viele am Bildungs- und Ausbildungssystem.

Für das „Bildungsversagen“ von Migrantenjugendlichen, speziell junger Frauen, wurde und wird in der deutschen Öffentlichkeit eine Reihe von Gründen genannt, die sich unter der Überschrift „Selbstverschulden“ zusammenfassen lässt: falsche Berufswünsche, mangelndes Interesse, fehlende Motivation sowie Behinderung durch die Familien.

Fakt ist jedoch, dass sowohl die regelmäßig vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) durchgeführten Befragungen unter Lehrstellensuchenden
(s. auch Seite 9) als auch andere Studien (s. Literaturangaben) das Argument der Bildungsbenachteiligung durch das Elternhaus als Klischee entlarven.

So konnte die mit 950 jungen Migrantinnen unterschiedlicher kultureller Herkunft durchgeführte empirische Studie „Viele Welten leben“ (Boos-Nünning/Karakasoglu) belegen, dass über 40 Prozent der befragten Mädchen familiäre Unterstützung erhalten; 32 Prozent mit Aussiedler- und 25 Prozent der Mädchen mit Migrationshintergrund gaben an, dass Familienmitglieder ihnen bei den Hausaufgaben helfen bzw. eine Nachhilfe finanzieren, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage sind. Man muss bei diesen Angaben wissen, dass zwei Drittel der untersuchten Familien einen ökonomisch schwachen Status haben und insbesondere italienische und türkische Eltern sehr niedrige Schulabschlüsse aufweisen. Vor dem Hintergrund dieser Stichprobe zeigen die Befragten allerdings ein beachtenswertes Bildungsbewusstsein – im Rahmen ihrer sozial-familiären Möglichkeiten.
Gründe des „Scheiterns“ Bildungsexperten nennen hauptsächlich zwei Gründe für die überproportionale Bildungsbenachteiligung. Der eine: Bei Jugendlichen, speziell türkischer und italienischer Herkunft, sei deren kulturelles Kapital durch die Einwanderung entwertet worden. Der andere: negative Einstellungen und Vorurteile der Pädagogen gegenüber dieser Schülerklientel.

Auch im Ausbildungssektor zeigt sich, dass zum einen der Migrationshintergrund bei Bewerbungen ein Handicap darstellt. Zum anderen greifen Mechanismen der Ausgrenzung:
- Mangelnde Förderansätze in der Schule
Noch immer gibt es an den wenigsten Schulen insbesondere für junge Menschen aus Zuwandererfamilien eine zielgruppenadäquate Bildungslaufbahnberatung. Diese ist aber notwendig, um die Gruppe früh mit Berufsanforderungsprofilen vertraut zu machen.
- Rekrutierungsstrategien und Vorbehalte von Betrieben und Verwaltungen
Immer noch hat sich an der Rekrutierungsstrategie von Ausbildungsbetrieben, „scheinbar neutrale“ Einstellungstests und Kompetenzfeststellungsverfahren anzuwenden, nichts Wesentliches verändert. Diese erschweren aber Migrantenjugendlichen den Zugang zur beruflichen Ausbildung.

Des Weiteren machen die BIBB-Studien deutlich, dass bei Personalchefs und Ausbildungsbetrieben gegenüber jungen Migrantinnen türkischer und arabischer Herkunft weiterhin Misstrauen und Vorurteile wirksam sind: Arbeitgeber befürchten negative Reaktionen bei ihren Kunden, wenn sie junge Migrantinnen einstellen. Fakt ist auch, dass diese und ihre Familien kaum über informelle und berufliche Netzwerke verfügen, die ihnen den Zugang zu Lehrstellen erleichtern könnten.

Auch in Branchen, die einen Bedarf an mehrsprachigem und interkulturell geschultem Personal haben, werden junge Migranten nicht in notwendigem Maße als geeignete Auszubildende angesehen.

Vor allem bei den Ausbildungsbetrieben mangelt es an Wissen über Lehrlinge mit Migrationshintergrund. Aber auch Informationslücken bei den Jugendlichen und ihren Eltern über das Ausbildungssystem beeinträchtigen die Zugangs- und Ausbildungschancen.

Fest steht: Die Barrieren im deutschen Bildungssystem und auf dem Ausbildungsmarkt haben zur Folge, dass weiterhin eine große Zahl Migrantenjugendlicher keinen Berufsabschluss erzielt. Ob jungen Migrantinnen eine erfolgreiche Teilhabe an Gesellschaft gelingt, hängt davon ab, inwieweit sie in das hiesige Bildungswesen integriert werden.

Studie: erfolgreiche Migranten im deutschen Bildungssystem

Es gibt migrationsspezifische Ressourcen, die Einwandererkindern beim Aufstieg im deutschen Bildungssystem nützen. Aber es gibt auch – jenseits von Fleiß und Leistung – Hürden für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft. So lautet ein zentrales Ergebnis der Studie über „Erfolgreiche Migranten im deutschen Bildungssystem“ des Soziologen Ulrich Raiser*. Er macht zwei unterschiedliche Typen von Bildungsaufsteigern aus Einwanderermilieus aus: „Kollektivisten“ und „Individualisten“.

Kollektivisten“ entstammten Familien, die die Erfüllung des von den Eltern selbst nicht erreichten Migrationsziels als Verpflichtung an ihre Kinder weitergeben. Ihr Ziel – ökonomischer und sozialer Aufstieg – sollen die Töchter und Söhne möglichst durch universitäre Abschlüsse verwirklichen. Ein wichtiges Merkmal dieser Elternhäuser ist die Orientierung auf die eigene Community: „Eine Anpassung an die deutsche Gesellschaft kommt in den Lebensplanungen der Eltern nicht vor.“ Die Kinder nehmen diesen Bildungsauftrag der Eltern ebenso wie deren Werte an: Normen wie Fleiß, Disziplin und die Wahrung familiären Ansehens wirkten sich als soziales Kapital förderlich auf den Bildungsaufstieg aus.

Das Verhältnis zur deutschen Gesellschaft der Migranteneltern, die Raiser dem Typus der „Individualisten“ zuordnet, ist ein völlig anderes. Wichtiges Bildungsziel der Kinder aus diesen Familien ist eine „eigenständige Lebensführung“. Das bedeutet Erziehung zu größerer Autonomie und eine stärkere Nähe zur Aufnahmegesellschaft: Die Eltern erkennen deren Spielregeln an.

Der Typus der Kollektivisten hingegen, der den Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft meidet, könnte deshalb, so Soziologe Raiser, „seinen Kindern kein Wissen über einen erfolgversprechenden Umgang mit den Bildungseinrichtungen“ vermitteln.
Die Haltung der „Individualisten-Eltern“ entspricht mehr den Erwartungen des deutschen Bildungssystems. Das wirke sich positiv auf die Laufbahn ihrer Kinder aus, stellt der Wissenschaftler fest. Während die Kinder dieses Familientypus oft von Lehrern gefördert und an wichtigen biografischen Wendepunkten wie Schulübertritten beraten werden, erhielten die Kinder der „Kollektivisten“ wenig bis keine Unterstützung. Da die Eltern beider Typen aufgrund ihrer eigenen oft geringen Bildung kaum beim Lernen helfen können, gibt es trotz der positiven Effekte migrationsspezifischer familiärer Ressourcen eine gemeinsame Hürde, vor der beide Gruppen stehen. Raiser: „Solange das Schulsystem auf der ausgesprochenen Unterstützungsleistung durch Eltern basiert, bleiben Kinder mit so genannten bildungsfernen Hintergründen benachteiligt.“

Hülya Deniz: „Du schaffst es“ – ein Porträt

Hülya Deniz, 40, hat es geschafft. Sie ist Besitzerin eines Kosmetiksalons in Berlin. Das ist ihr nicht in den Schoß gefallen. Dafür hat sie gekämpft. Eine starke Frau.

Als Hülya Deniz zehn Jahre alt war, fasste sie einen Entschluss: „Ich will nicht das Leben einer typisch türkischen Frau in Ostanatolien führen. Ich will nicht fünf, sechs Kinder großziehen und mich von einem Macker rumkommandieren lassen.“ Das Jahr bei der Großtante in Ismit hatte ihr die Lebensrichtung gezeigt. Wie ungeliebte Stiefkinder waren sie und ihre Schwester behandelt worden, mussten sich zum Schlafen im Wohnzimmer zusammenrollen, beim Waschen, Putzen, Kochen helfen, wurden kränklich, hatten sich schweigend zu fügen. Bis der Vater, aufgeschreckt durch einen Brief der Schwester, die Kinder zurück nach Deutschland nahm. Das war 1978.
„Enthaarungssalon“ steht in goldenen Lettern über dem Schaufenster des kleinen Ladens in Berlin. „Noch einen Schluck Tee?“ Hülya Deniz lächelt. Hier ist ihr Reich. Sie ist Chefin von „Deniz Cosmetics“. Enthaarungen, Pearcing, Kosmetik. Keine gewöhnliche Karriere für eine, der eine Kindheit in Ostanatolien geringe Startchancen mit auf den Weg gab.

Mit Angst war die Sechsjährige in der Türkei zur Schule gegangen, in der die Fragen des Lehrers scharf durch den Klassenraum schnellten. Falsche Antwort? Schneidend knallte sein Lineal auf die Schülerhände. Aber da war
auch ihr Vater, ein anpackender, offener Mann, der zwar nie eine höhere Schule besucht hatte, doch nach vorn strebte mit Neugier und Kraft. Erst als Zeitungskolummnist, später als Buchbinder. Da war ihre Mutter, die weder Lesen noch Schreiben gelernt hatte, doch es sich selbst beibrachte – Ehrensache. Die Eltern lehrten ihre vier Kinder, was ihnen wichtig war: Verlässlichkeit, Beständigkeit, den Wert von Anstrengung, Mut. Ende der 1960er-Jahre wagte der Vater den großen Schritt: Er ging nach Deutschland. Als Gastarbeiter in eine Schokoladenfabrik.

Hoffnung und Zuversicht


Nie wird Hülya Deniz das Gesicht ihres Vaters am Flughafen vergessen, als er die Familie gut ein Jahr später abholte. Er war voller Hoffnung und Zuversicht. Deutschland war für die Sechsjährige das: Zum ersten Mal Fernsehen, Tafelweise Schokolade essen, Männer mit langen Haaren, Nackte im Park, Hippies und Musik. Es war: Zwei Kreuzberger Zimmer für sechs Personen, Gemeinschaftstoilette auf dem Gang. Eine Schule für „Gastarbeiter“, Geschichten erzählen statt lernen. „Die gehen doch eh bald zurück“, sagten sich die Lehrer. Deniz tat es, notgedrungen. Wurde zur Tante geschickt, weil der Vater seine eigene Rückkehr vorbereiten wollte. Bis die Entscheidung fiel: Wir bleiben. Und er die Töchter nach Berlin zurückholte.

Wieder landet sie in einer Migrantenklasse. Doch bald darf sie in die deutsche Klasse wechseln, findet Lehrer, die sie fördern und ihr sagen: Du bist gut, du schaffst es.
Nach dem Realschulabschluss, während der Lehrzeit als Schriftsetzerin in der Kreuzberger Druckerei ihres Vaters, musste sie noch oft an seine Worte denken. Ohne ihren Vater hätte es Hülya Deniz nicht so weit gebracht. Er vermittelte dem jungen Mädchen alles, was im Geschäftsleben wichtig ist: Kundengespräche, Buchhaltung, Verhandlungen. „Ich bin Papas Werk.“ Gemeinsam machten Vater und Tochter aus der kleinen Druckerei ein erfolgreiches Unternehmen. Und auch da, wo die Kultur des Heimatlandes und die neue Welt der Tochter unsanft aufeinanderprallten, wie damals, als Deniz im Schwimmbad von türkischen Nachbarn gesehen wurde, fanden sie Auswege: mit Vertrauen und Offenheit. Das hat geholfen, beides zusammenzuführen: die chancenreichen Freiheiten der deutschen Umgebung und die Kraft der Herkunftsfamilie, die sie stützte. Als Hülya Deniz die väterliche Druckerei nach 14 Jahren verließ, um sich auf eigene Füße zu stellen, war sie zu einer gut ausgebildeten, selbstbewussten jungen Frau geworden.

Eine Vorreiterin, eine Rebellin, die sich selbst etwas zutraute, so beschreibt sich Hülya Deniz heute. Sie marschierte als erste in den Erfolg, die drei Geschwister folgten nach. Wurden Altenpflegerin, Kosmetikerin, Drucker. Sie wagte als erste, ihre Selbstständigkeit auch privat konsequent durchzusetzen, ließ sich scheiden von ihrem Mann, der nur die türkische Frau in ihr sah.

Hülya Deniz lächelt. Sie ist stolz, dass sie es geschafft hat. Und – dass ihre Familie stolz auf sie ist.

 

Interview mit Juliane Moritz und Heike Friedel: „Eltern müssen uns vertrauen“

2004 machte die Eberhard-Klein-Oberschule in Berlin-Kreuzberg eher unfreiwillig Schlagzeilen – als erste Schule in Deutschland ohne deutsche Schüler. Etwa 80 Prozent der Schüler sind türkischer, 15 Prozent arabischer Herkunft. Im vergangenen Jahr wurde der Haupt- und Realschule der
Girls’ Day-Preis verliehen, weil sie alle Schülerinnen und Eltern in den Berufsfindungstag einbezogen hat. E &W sprach mit der Lehrerin Juliane Moritz und der Sozialpädagogin Heike Friedel über Bildungsprobleme junger Migrantinnen.

E &W: Frau Moritz, Sie unterrichten Deutsch und Arbeitslehre in Klassen, in denen kaum ein Kind zu Hause Deutsch spricht. Was bedeutet das für den Unterricht?
Juliane Moritz: Ich kenne es kaum anders. Mein Referendariat habe ich an einer ähnlichen Schule absolviert. Aber natürlich sind die mangelnden Sprachkenntnisse immer präsent; man führt ein Glossar, erläutert Wörter, die die Schüler nicht kennen. Ich bilde mich deshalb ständig in Deutsch als Zweitsprache fort – in Eigenregie, in Gesprächen mit Kollegen oder den Sozialpädagogen an unserer Schule. Im Referendariat und insbesondere auch im Studium für angehende Deutschlehrer kommt das Thema leider viel zu kurz.

E &W: Die meisten stammen aus muslimischen Familien. Wie präsent ist der Islam, insbesondere bei Schülerinnen?
Moritz: Im Ramadan fasten viele. Wir machen Freitag nachmittags keine Ausflüge, weil unsere Schülerinnen die Moschee besuchen. Einige Mädchen tragen ein Kopftuch. Dass wir im Unterricht aber ständig mit islamischer Religion konfrontiert sind, wäre übertrieben.

E &W: Die klassische Vorstellung lautet: Musliminnen dürfen nicht mit auf Klassenfahrt oder zum Ausflug...
Moritz: Was die Ausflüge angeht: Wir stehen in sehr engem Kontakt mit den Eltern. Wenn Schüler neu sind, laden wir ihre Familien ein mitzukommen, auch in den Unterricht. Viele Familien besuchen wir zu Hause. Wir veranstalten regelmäßig Elternabende zu verschiedenen Themen. Und wenn wir etwas außerhalb der Schule unternehmen, sagen wir zuhause Bescheid. Vor allem bei den Mädchen ist es ganz wichtig, dass die Eltern uns vertrauen.

E &W: Tun Sie das außerhalb Ihrer Arbeitszeit oder erhalten Sie dafür Ermäßigungsstunden?
Moritz: Nein. Aber ich habe gar keine Wahl. Wenn ich bei den Schülern und Schülerinnen etwas erreichen will, geht es nicht ohne die Eltern.

E &W: Braucht eine Schule an diesem Punkt mehr Unterstützung?
Moritz: Wir haben diese zum Glück. An unserer Schule haben wir ein Sozialpädagogen-Team, das in der Mädchen- und Elternarbeit aktiv ist. Ihnen ist es zu verdanken, dass ein ganz enges Netzwerk im Stadtteil in der Berufsvorbereitung tätig ist.

E &W: Frau Friedel, Siebtklässlerinnen, was wollen die so werden?
Heike Friedel: In der Regel: etwas ganz Tolles, Ärztin oder Rechtsanwältin. Meist wird ihnen erst später klar, dass das mit ihrem Abschluss – höchstens Real-, meistens Hauptschulabschluss – illusorisch ist. Dann reduzieren sich die Wünsche vor allem auf klassische Mädchenberufe: Erzieherin oder Friseurin, Arzthelferin oder Krankenschwester. Bei deutschen Schülerinnen ist das ähnlich.

E &W: Ist manchen Eltern die Bildung ihrer Töchter egal - nach dem Motto: Mädchen brauchen so etwas nicht...
Friedel: Das habe ich selten erlebt. Das Problem ist eher, dass Migranteneltern – genau wie ihre Kinder – nur wenige Berufe kennen und kaum etwas über das deutsche Berufsbildungssystem wissen. Wir beziehen sie deshalb in die Berufsvorbereitung ein; bieten Elternabende an und laden Berufsberater oder Mitarbeiter von freien Trägern dazu. Gerade bei Mädchen versuchen wir, die tradierten Vorstellungen aufzubrechen. Das gilt für den Girls’ Day, aber auch für die normale Berufsfelderprobung: Mädchen werden auch an technische Berufe herangeführt.

E &W: Und – was wird aus ihnen?
Friedel: Ehrlich gesagt: Die Lage ist nicht gut. Gerade Mädchen haben am ehesten dort eine Chance, wo sie das Klischee auch verortet: in einer Arztpraxis oder beim Friseur. Die meisten landen im Berufsvorbereitungsjahr.

E &W: Schreiben sie zu wenig Bewerbungen?
Friedel: Nein. Aber natürlich ist auch die Motivation ein Problem. Die Mädchen wissen, wie schlecht ihre Aussichten sind. Die wenigsten kommen aus einem Elternhaus, das nicht von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Sie in dieser Situation immer wieder zu motivieren, ist schwer. Und bei vielen Arbeitgebern hat man tatsächlich den Eindruck, dass sie Bewerbungen mit türkischen oder arabischen Namen gar nicht erst lesen.

Die Exil-Iraner und der Film „Persepolis“

„Das ist eine oder besser gesagt ihre Geschichte der iranischen Revolution, zugegeben sehr gut verpackt“, sagt die 24-jährige Deutsch-Iranerin Sara. Ihre Freundinnen nicken zustimmend, als sie gelangweilt das Kino verlassen. Ich bin über diese knappe mündliche „Rezension“ verblüfft. Woher rührt solche Distanziertheit, um in Saras Jargon zu sprechen, dieses coole Abkanzeln von „Persepolis“, dem französischen Film von Marjane Satrapi, der inzwischen international für Furore gesorgt hat und sogar als bester Animationsfilm für den Oskar nominiert war. Sara und ihre Freundinnen sind mit ihrer ambivalenten Haltung zum Film keineswegs allein. Fast alle Exil-Iraner, weiblich wie männlich, finden „Persepolis“ zwar formal ästhetisch gut gemacht, aber die dem Film zugrundeliegende Autobiografie der Autorin ist für sie sehr „normal“. Für sie zeigt die Geschichte des Films schlicht iranische „Alltagsnormalität“. Denn fast jeder Exil-Iraner hat seine eigene surreale Fluchtgeschichte und jeder hält sein Schicksal für einmalig.

Die meisten europäischen Zuschauer rezipieren „Persepolis“ anders. Für sie ist der Film gerade deshalb interessant, weil die Autorin ihnen mit Hilfe der Comics komplizierte Revolutionsereignisse näherbringt und dabei ihre eigene traurige Geschichte mit Ironie erzählt. Eine Geschichte, die fast zwei Jahrzehnte dauert, sich im revolutionär-chaotischen Teheran, im provinziell kühlen Wien und in der Weltstadt Paris abspielt. Geschichte zu erzählen, ist Satrapis Metier. So ist sie mehr Schriftstellerin als Filmemacherin und erzählt nicht nur eine Story, sondern auch Historie. Auf die Frage, warum sie ihren Film, der einen Teil ihrer Biografie widerspiegelt, „Persepolis“ genannt habe, antwortet sie: „Jeder weiß, was Persepolis war: die Stadt der Perser, wie der griechische Name sagt. Man muss etwas über die persische Geschichte wissen, wenn man den heutigen Iran verstehen will. Es ist doch nicht so, als wären die Mullahs 1979 vom Himmel gefallen. Ich werde immer wieder gefragt, warum wir Iraner keine Gegenrevolution initiierten. Aber – unsere ganze moderne Geschichte ist eine einzige Revolution! 1906 fand in Persien eine Revolution für die konstitutionelle Monarchie statt. Die Menschen starben wie die Fliegen. 1951 gab es eine mehr oder minder demokratische Revolution, trotzdem gab es viele Tote. 1953 kam es mit Hilfe der Amerikaner zu einer Konterrevolution, die den Schah wiedereinsetzte. Die Leute starben. 1979 wurde die Islamische Republik begründet, über deren Methoden ich nicht viel sagen muss. 1980 begann der achtjährige Krieg mit dem Irak, der auf iranischer Seite mehr als eine Million Opfer forderte.“
Marjane Satrapi hat all dies im Kopf, während sie ihre Geschichte verfilmt: Sie erlebt als Kind die islamische Revolution. In der Schule muss sie die pro-islamische Indoktrination über sich ergehen lassen, erfährt von der Schließung der Universitäten unter der neuen Regierung, eckt mit ihrem Wunsch nach Jeans und westlicher Musik sowie ihrer Abneigung gegen das Kopftuch an; sie hört von den Folterungen unter dem Schah-Regime, bekommt Verhaftungen und Demütigungen in der Familie durch die Islamisten mit. Auf dem Höhepunkt des iranisch-irakischen Kriegs wird sie als 14-jähriges Mädchen von ihren bürgerlich-intellektuellen Eltern ins Flugzeug gesetzt und zu einem Verwandten nach Wien geschickt, um sie vor den Mullahs zu schützen. Marjane Satrapi hat – das ist das Entscheidende – die künstlerischen Mittel und die Gelassenheit, um einen sperrigen und traurigen Stoff unterhaltsam zu erzählen. „Wenn wir je etwas gegen die Mullahs erreichen werden, dann nur mit Witz und Ironie, eine neue Revolution mit einem neuen Blutbad macht es noch schlimmer“, so Satrapi. In der Islamischen Republik bleibt der Frau in der Tat oft nichts anderes übrig als Witz und Ironie im Alltag, denn im Reich der Mullahs erscheint fast alles paradox. So sind dort beispielsweise zwar mehr als 60 Prozent der Studierenden weiblich, doch die Zeugenaussage einer Frau wiegt vor Gericht nach dem Gesetz nur die Hälfte der eines Mannes! Das Neueste aus dem Iran: Das Parlament diskutiert gerade, wie und in welchen Fächern gegen die „Frauenflut“ an den Universitäten eine Männerquote eingeführt oder wie man am besten die Schulbücher der Mädchen und der Jungs trennen kann. Denn die Frauen geben keine Ruhe.