Zum Inhalt springen

Mobilität im Bildungssystem

Es knirscht und kracht im Gebälk

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Was bedeutet das für Schulen, Kitas und Hochschulen?

Deutschland hat seit vielen Jahren einen positiven Wanderungssaldo. Das Bildungssystem stellt das vor große Herausforderungen. (Foto: IMAGO/Christian Ohde)

Köln-Finkenberg. In den Hochhäusern des Stadtteils leben viele Zugewanderte. Die Arbeitslosenquote ist hoch. „Wir arbeiten im sozialen Brennpunkt“, sagt Gina Hellerling, Schulleiterin der Gemeinschaftsgrundschule (GGS) Konrad-Adenauer-Straße 20. „Migrantenanteil 99 Prozent“, erläutert die 65-Jährige. Viele Kinder sprächen kein oder wenig Deutsch, wenn sie eingeschult werden. Hinzu komme mangelnde Schulreife bei einem Teil der Erstklässler. „Sie können keinen Stift halten und nicht allein zur Toilette gehen“, berichtet die Schulleiterin. Der Grund? Die Kinder seien „über-behütet“, erhielten von ihren Eltern kaum Freiraum. Dies sei vor allem bei Familien aus dem arabischen Raum zu beobachten.

Fachkräftemangel behindert Integration

Deutschland im Herbst 2023. Schulen, Kitas und Hochschulen bemühen sich nach Kräften, auch Kindern, Jugendlichen und Studierenden mit Flucht- oder Migrationsbiografie gerecht zu werden. Doch es knirscht und kracht im Gebälk der Bildungsinstitutionen. „Alarmstufe rot für unser Schulsystem“, lautet der Hilferuf einer Hamburger Schulleitung im Rahmen einer GEW-Umfrage. Bundesweit sind Zehntausende Stellen für Lehrkräfte entweder gar nicht oder mit Quereinsteigenden besetzt. An den Kitas werden über 300.000 Erzieherinnen und Erzieher gebraucht, um den Betreuungsbedarf zu decken und sicherzustellen, dass für alle Plätze ein kindgerechter Personalschlüssel gilt. An Hochschulen sorgen etwa aufenthaltsrechtliche Probleme dafür, dass Frauen und Männer mit Fluchtgeschichte nicht im Studium Fuß fassen.

„Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, die Familien in die Schule zu holen“ (Gina Hellerling)

Die GGS in Finkenberg ist als „Familiengrundschulzentrum“ (FGZ) anerkannt. Das heißt unter anderem: Bildungs- und Beratungsangebote richten sich auch an Mütter und Väter. Dafür gibt es Fördermittel der Stadt Köln und des Landes Nordrhein-Westfalen. „Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, die Familien in die Schule zu holen“, sagt Hellerling. Die Schule hat allerdings die Erfahrung gemacht, dass zugewanderte Eltern auf Einladungen der Schule oft mit Abwehr reagieren. „Viele haben in ihrer eigenen Schulzeit repressive Erfahrungen gemacht“, betont Hellerling. Kurdische Eltern aus dem Irak berichteten, dass ihnen verboten war, in der Schule Kurdisch zu sprechen – „und das ist mit körperlicher Gewalt durchgesetzt worden“. In Bulgarien und Rumänien hätten Roma erlebt, dass ihnen der Unterrichtsbesuch verboten wurde. „Es gab zwar die Schulpflicht, aber sie wurden von den Lehrern wieder nach Hause geschickt“, erzählt Hellerling.

„Rund ein Drittel junger Geflüchteter benötigt therapeutische Begleitung.“ (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung)

Damit Integration gelingt, bedarf es nicht nur eines guten Unterrichts, der Zuwendung und einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Eltern. „Rund ein Drittel junger Geflüchteter benötigt therapeutische Begleitung“, meldet die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Schulen und Kindertagesstätten hätten „großen Orientierungsbedarf beim Umgang mit traumatisierten Kindern“. Doch sind Kitas darauf eingestellt?

2022 sind laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 482.000 Bürgerinnen und Bürger aus Ländern der Europäischen Union (EU) nach Deutschland eingewandert. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der zugewanderten EU-Staatsangehörigen um 2,8 Prozent. Die meisten EU-Einwanderinnen und -Einwanderer kamen aus Rumänien (rund 161.000), Polen (79.000) und Bulgarien (60.000). Im gleichen Zeitraum wanderten rund 338.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger ab – in der Mehrzahl rumänische, polnische und bulgarische Staatsbürgerinnen und -bürger. Die drei Länder machen mit mehr als 60 Prozent den Großteil der Zu- und Fortzüge der EU-Staatsangehörigen aus.

Zusätzlich sorgt seit Februar 2022 der Angriffskrieg Russlands für Zuwanderung aus der Ukraine. Laut Mediendienst Integration lebten im September 2023 etwa 346.000 -ukrainische Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre waren, in Deutschland. Aktuell steigen die Zuwanderungszahlen auch aus anderen Ländern wieder an. Von Januar bis September 2023 baten 251.213 Menschen um Asyl – ein Plus von 73 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Laut Angaben der Bundesregierung ist mehr als ein Drittel der Geflüchteten minderjährig.

Massiver Fachkräftebedarf im Kita-Bereich

Ein Blick nach Sachsen. „Wir schätzen, dass in Leipzig zwischen 2.000 und 5.000 Betreuungsplätze fehlen“, schreibt die Leipziger Kita-Initiative auf ihrer Homepage. Und wer einen Platz gefunden hat, werde mit weiteren Problemen konfrontiert: „Wir bekommen mit, wie überforderte, gestresste und schlecht gelaunte Erzieherinnen zu den Bezugspersonen unserer Kinder werden.“ Dies sei verständlich, müsse doch eine Erzieherin bis zu 18 Kinder betreuen. Laut gesetzlichem Betreuungsschlüssel für Sachsen liegt die Höchstgrenze bei zwölf Kindern pro Erzieherin. „Wir haben einen massiven Fachkräftebedarf im Kita-Bereich“, erklärt Marika Tändler-Walenta, familienpolitische Sprecherin der Linken im sächsischen Landtag.

Gleichwohl bemüht sich auch Sachsen, die Integration an Kindertagesstätten voranzutreiben. „WillkommensKITAs“ nannte sich ein Programm der DKJS, an dem sich im Freistaat 88 Kitas und Horte beteiligten – und das Ende 2022 auslief. „Mithilfe des Programms baut sich die Kita ein lokales Unterstützungsnetzwerk auf“, steht auf der Projekt-Webseite. Es galt, Kontakte auch zu den Leitungen von Asylunterkünften, Ausländerbeauftragten oder Beratungsstellen zu knüpfen. Die beteiligten Kitas erhielten jeweils drei Jahre lang „fachliche Unterstützung durch Coaching und Fortbildung“; zusätzliche pädagogische Fachkräfte wurden indes nicht finanziert. Also nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Esther Uhlmann von der DKJS verneint. Das Programm habe durchaus Wirkung entfaltet. Die Kitas benötigten „den Blick von außen, Begleitung bei der Weiterentwicklung der Einrichtungen und Reflexion ihrer Prozesse“. Allerdings hätten die teilnehmenden Einrichtungen zurückgemeldet, „dass noch mehr Entwicklung stattfinden könnte, wenn mehr Personal zur Verfügung stünde“.

Sprachbarriere oft ein Problem

Ortswechsel. Wir treffen Ghaith, 33 Jahre, aus Syrien. 2015 floh er nach Deutschland, belegte Sprachkurse. 2020 begann er, in einer westdeutschen Großstadt Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Um sich zu finanzieren, arbeitet er halbtags in einer Bank. „Arbeit und Studium klappt nicht“, klagt der junge Mann. Kopfzerbrechen bereitet ihm außerdem, wenn es an der Uni um Wirtschaftsrecht geht. „Mit der juristischen Sprache habe ich Probleme, immer noch.“ Ghaith überlegt nun, das Studienfach zu wechseln.

An den Hochschulen in Deutschland studieren rund 2,9 Millionen Menschen. 30.000 von ihnen seien Geflüchtete, schätzt Michael Grüttner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung in Hannover. Was muss eine Uni oder Fachhochschule tun, um Studierwillige mit Fluchtbiografie zu fördern? Wichtig sei neben der Beratung die „akademische Integration“, antwortet Grüttner. „An manchen Hochschulen wird versucht, sehr früh eine Integration von Sprachkursen mit dem Studienalltag vorzunehmen.“ Bevor das C-1-Sprachniveau erreicht sei, besuchten Geflüchtete die ersten Fachkurse. „Damit man früh merkt: Ah, so funktionieren die Seminare, die Vorlesungen, die Lerngruppen.“ Dies müsse, so Grüttner, mit „sozialer Integration“ verzahnt werden.

Unterstützung leistet zum Beispiel der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) mit dem Projekt „Welcome – Studierende engagieren sich für Flüchtlinge“, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Derzeit fördert der DAAD 162 „Welcome“-Projekte. Trotz der Hilfsprogramme an vielen Hochschulen gilt: „Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Lebensunterhalts, der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie mit dem Lernen und aufenthaltsrechtliche Fragen“ sorgten dafür, dass etliche Studierwillige scheitern, erklärt Grüttner. Zahlen dazu gebe es allerdings nicht.