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Geschlechterreflektierte Pädagogik

Es ist auch eine Haltungsfrage

Wie funktioniert geschlechterreflektierte Pädagogik in Kitas und Grundschulen? Fragen an Judith Linde-Kleiner und Jonathan Franke vom Kompetenzzentrum geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe Sachsen-Anhalt e. V. (KgKJH).

  • E&W: Sie beraten pädagogische Einrichtungen zu -Geschlechtergerechtigkeit und -vielfalt. Wie äußert sich eine geschlechterreflektierte Pädagogik in Kitas und Grundschulen?

Jonathan Franke: Zuerst einmal natürlich durch entsprechendes Material. Bücher sind eine sehr gute Methode, um mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Wir haben für Sachsen-Anhalt einen Medienkoffer zusammengestellt, den sich Kitas, Horte und Grundschulen ausleihen können. Er enthält Bücher und Spiele zu den drei Themen Geschlechterrollen und Zuschreibungen, Geschlechtervielfalt und familiäre Vielfalt.

  • E&W: Wovon handeln diese Bücher zum Beispiel?

Franke: Mädchen und Jungen nehmen darin nicht die typischen Rollen ein. Mädchen sind zum Beispiel auch stark oder Jungen emotional und gefühlvoll. Genauso gibt es auch Bücher, die darüber hinausgehen und so Perspektiven für Geschlechtervielfalt öffnen.

  • E&W: Wie zeigt sich eine geschlechterreflektierte Pädagogik in den Einrichtungen außerdem noch?

Judith Linde-Kleiner: Es ist auch eine Haltungsfrage – etwas, das die pädagogischen Fachkräfte verinnerlicht haben. Ein Beispiel: Ein Mädchen trägt in der Kita einen Pulli mit einem Bagger darauf. Die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, dass die anderen Kinder sagen: „Das ist aber gar nicht für Mädchen.“ Die Fachkraft geht sofort darauf ein und sagt, dass alle Motive und alle Farben für alle Kinder sind. Ich wünsche mir, dass die Fachkräfte solche Dinge auch ohne Konfliktsituationen thematisieren, dass sie einem Jungen immer die ganze Palette an Farben anbieten, dass sie ihn fragen, ob er gern in die Rollenspielecke möchte, ob er gern tanzen möchte, ob er etwas bauen möchte.

  • E&W: Spielt das Verhalten der pädagogischen Fachkräfte untereinander hierbei auch eine Rolle?

Franke: Auf jeden Fall. Sie sollten im Alltag ganz bewusst darauf achten, wer in der Einrichtung was übernimmt. Wenn der einzige Mann im Kita-Team selbstverständlich und automatisch derjenige ist, der mit den Kindern Fußball spielt oder in der Handwerksecke baut, dann verfestigt das die Geschlechterklischees. Sich dieser Dinge bewusst zu werden, erfordert eine große Reflexionsarbeit der Fachkräfte.

Linde-Kleiner: Ich denke, dass es zur Aufgabe einer pädagogischen Einrichtung gehört, Geschlecht möglichst vielfältig darzustellen. Es sollte also auch eine Erzieherin geben, die Fußball spielt, die Nägel in die Wände schlägt und auch schwere Sachen trägt.

  • E&W: Sie geben Fortbildungen in Kitas, Horten und Grundschulen, in denen es um unterschiedliche Perspektiven auf Geschlecht geht. Was sind die wichtigsten Inhalte?

Franke: Das meiste ist tatsächlich die Arbeit an der eigenen Haltung, dass die Fachkräfte also ihre eigene Prägung reflektieren: Wie wurden sie sozialisiert? Welche Klischeevorstellungen haben sie selbst verinnerlicht? Und reproduzieren sie diese vielleicht unbewusst? Außerdem betrachten wir, welche Faktoren die geschlechtliche Prägung der Kinder beeinflussen. Zum Beispiel in Medien und Werbung. Welche Rollenbilder erleben und verinnerlichen die Kinder? Wie können die Fachkräfte damit umgehen?

  • E&W: Sie sollten also gegen Geschlechterklischees arbeiten?

Franke: Nicht per se. Diese sollen nicht weggenommen werden. Ein Mädchen darf auch weiterhin Prinzessin sein, wenn es das selbstbestimmt ausleben möchte. Es geht darum, Möglichkeiten zu öffnen und den Kindern zu sagen: Es gibt viele Varianten, und ihr könnt selbst entscheiden.

  • E&W: Wie sieht das Angebot solcher Fortbildungen auf Bundesebene aus?

Linde-Kleiner: Die Bundesländer sind unterschiedlich besetzt. In Sachsen-Anhalt sind wir vergleichsweise gut aufgestellt. In unserer Stelle arbeiten fünf Personen, drei davon geben Workshops. Meines Wissens nach ist der Bedarf an Fortbildungen zum Thema in keinem Bundesland abgedeckt. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Ministerien für diese Fortbildungen verantwortlich sind. Denn in allen Ländern sind die Kitas im sozialen Bereich und die Schulen im Bildungsbereich angesiedelt.

  • E&W: Inwieweit kommt das Thema in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte vor?

Linde-Kleiner: Auch das ist bundesweit natürlich unterschiedlich. Im Detail kann ich nur für Sachsen-Anhalt sprechen. Ich war lange Lehrerin an der Fachschule für Sozialpädagogik, an der Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet werden. Im Lernfeld 3 gibt es das Thema „Vielfalt und Inklusion“. Die Lehrkräfte haben darin relativ große Freiheiten. Eine Lehrkraft, die aus der Arbeit mit Menschen, die behindert sind, kommt, wird den thematischen Schwerpunkt dort setzen. Ich habe dagegen eher den Bereich Geschlechtergerechtigkeit behandelt.

  • E&W: In den Bildungsplänen der Länder wird geschlechterreflektierte Pädagogik unter verschiedenen Bezeichnungen erwähnt: geschlechtersensibel, geschlechtergerecht oder auch vorurteilsbewusst. Was ist Ihr Eindruck? Ist das Thema in den Plänen ausreichend verankert?

Linde-Kleiner: In den meisten Bundesländern wird der geschlechtergerechte Aspekt als Querschnittsthema gehandhabt, das bedeutet: Er soll in der gesamten pädagogischen Arbeit mitgedacht werden. Kritisch sehe ich, dass dort oft nur von Jungen und Mädchen die Rede ist. Da unsere Gesellschaft aber von stereotypen Geschlechterbildern geprägt ist und sich nicht alle pädagogischen Fachkräfte schon intensiv damit auseinandergesetzt haben, wäre es sehr wichtig, das Thema auch in den Bildungsplänen deutlich herauszuarbeiten.