Noch in der Denkschrift, die dem Bundestag gemeinsam mit der amtlichen Übersetzung der Konvention vorgelegt wurde, ging die Bundesregierung ganz selbstverständlich davon aus, dass sich aus Artikel 24 des Übereinkommens kein Anpassungsbedarf ergebe – obwohl dort ausdrücklich die Rede davon ist, dass Schülern mit Behinderung der Zugang zu den allgemeinen Schulen nicht verwehrt werden darf (s. E&W-Schwerpunkt „Recht auf Bildung“ 3/2009 und E&W 6/2009, Seite 8).
Seit Mitte März 2009 ist das Übereinkommen für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich geworden – und mittlerweile herrschen Aufregung und Unsicherheit.
Nicht wenige sonderpädagogische Lehrkräfte nehmen die Kritik am traditionellen System der Förderschulen persönlich, sehen ihre eigene Leistung grundsätzlich in Frage gestellt und fürchten, über kurz oder lang zu „Fahrlehrern“ ohne Stammschule zu werden, die Tag für Tag über Land ziehen, um die in alle Winde verstreuten Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf mehr schlecht als recht zu betreuen. Einen Teil der Eltern der betroffenen Kinder treibt die Sorge um, dass die bestehenden Förder- und Sonderschulen in einer Art Kurzschlussreaktion aufgelöst werden, ohne dass zuvor an den allgemeinen Schulen die Voraussetzungen für die Integration (oder Inklusion) ihrer Kinder geschaffen werden.
Andere Eltern hoffen, dass es ihnen unter Berufung auf die UN-Konvention gelingen wird, ihre Kinder in einer wohnortnahen Regelschule unterzubringen und das jeweilige Bundesland sowie die Schulträger dazu bewegen zu können, die erforderlichen Strukturen zu schaffen. Auch in der Ministerialbürokratie und den Landesparlamenten verbreiten sich ganz allmählich Unruhe und die Einsicht, dass die bestehenden Strukturen den Anforderungen der Konvention eben doch nicht genügen.
Erste Klagen
Mittlerweile sind die ersten Klagen anhängig, mit denen Eltern für ihre Kinder den Zugang zu den allgemeinen Schulen durchzusetzen versuchen. Die Gerichte müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob und welche Rechte sich aus der UN-Konvention ergeben. In einem hessischen Verfahren (der Fall Philipp Koch siehe Seite 26) hatten sich die Schulbehörden auf den Standpunkt gestellt, dass das Land nicht an die Konvention gebunden sei, da es diese nicht selbst unterzeichnet habe. In der Tat stellen sich für den Verfassungsrechtler in diesem Zusammenhang einige sehr spannende Fragen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die hessische Landesregierung der BRK vor deren Ratifikation ausdrücklich zugestimmt – und damit das Land Hessen an die Vorgaben der Konvention gebunden hat. Möglicherweise haben sich die Behörden auch deshalb mittlerweile mit den klagenden Eltern geeinigt und erreicht, dass ihr Sohn auch in Zukunft eine Regelschule besuchen kann.
Theorie und Praxis
Zumindest auf den ersten Blick kommt es auf die Vorgaben der BRK deshalb nicht an, weil mittlerweile in fast allen Ländern der gemeinsame Unterricht Vorrang hat – genau dies verlangt ja auch die Konvention. Allerdings sieht die Praxis oft ganz anders aus, da sich aus den einschlägigen Bestimmungen in der Regel keine durchsetzbare Verpflichtung ergibt, Strukturen für den gemeinsamen Unterricht zu schaffen. Genau hier geht die Konvention einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie eine Pflicht begründet, „angemessene Vorkehrungen“ dafür zu treffen, dass der Vorrang des gemeinsamen Unterrichts in die Tat umgesetzt wird. Zwar ergibt sich auch hieraus kein Rechtsanspruch auf ganz bestimmte Leistungen. Die Schulbehörden und Gerichte werden in Zukunft jedoch sehr genau prüfen müssen, ob es wirklich zu viel verlangt ist, an einer wohnortnahen allgemeinen Schule die Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht zu schaffen.
Beim Vergleich der Kosten ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, in deren Rahmen auch Einsparungen an anderer Stelle, etwa bei den Kosten der Schülerbeförderung berücksichtigt werden. Selbst wenn sich dabei zeigen sollte, dass der gemeinsame Unterricht teurer ist, darf den Betroffenen der Zugang zu den allgemeinen Schulen nur dann verwehrt werden, wenn diese Mehrkosten übermäßig hoch ausfallen. Die Vereinten Nationen sind bei der Verabschiedung der BRK aufgrund der Erfahrungen in vielen Ländern davon ausgegangen, dass ein hochwertiger inklusiver Unterricht nicht mehr kostet als der Erhalt eines parallelen Schulsystems für Schüler mit Behinderungen.
Nicht alle Länder untätig
Die Länder sind keineswegs alle untätig geblieben. Teilweise wurde schon vor der Ratifikation der BRK damit begonnen, das bisherige System umzugestalten. Diese Entwicklungen lassen sich hier nicht detailliert darstellen. Daher müssen einige schlaglichtartige Einblicke genügen: In Thüringen, wo die früheren Förderschulen in den vergangenen Jahren zu Förderzentren umgestaltet worden waren, gibt es seit dem laufenden Schuljahr in Dreitzsch im Saale-Orla-Kreis ein erstes „Förderzentrum ohne eigene Klassen“. In diesem vergleichsweise kleinen Bezirk wurden sämtliche Schülerinnen und Schüler der bisherigen einzügigen Förder- auf die Grund- und Regelschulen verteilt, an denen in der Regel mehrere Sonderpädagogen auf Dauer tätig sind. Nach fast einem Jahr zeichnen sich erstaunliche Ergebnisse ab: Ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen ist mittlerweile so gut in der Regelschule angekommen, dass diese keinen sonderpädagogischen Förderbedarf mehr haben. Zugleich sind aus diesem Lande allerdings auch Klagen zu hören, dass Kinder, die auf Drängen der Schulbehörden aus der Förder- in eine allgemeine Schule wechselten, dort nur noch einen Bruchteil der bisherigen Förderung erhalten.
Auch die Lehrkräfte der allgemeinen Schulen fühlen sich überfordert, wenn die Kolleginnen und Kollegen des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes nur für wenige Stunden anwesend sind. Das deutet darauf hin, dass man in der Aufbruchstimmung vielleicht doch mit allzu heißer Nadel gestrickt hat.
Auch Baden-Württemberg – bisher Schlusslicht beim gemeinsamen Unterricht – will offensichtlich neue Wege gehen (s. Seite 22). Kultusminister Helmut Rau (CDU) hatte Anfang Mai am Rande einer Tagung angekündigt, dass man die Sonderschulpflicht abschaffen wolle. Was damit genau gemeint war, blieb zunächst unklar. Anfang Juni nahm ein Expertenrat „Sonderpädagogische Förderung“ seine Arbeit auf. Dieses Gremium soll bis zum kommenden Schuljahr Vorschläge für eine Reform der sonderpädagogischen Förderung erarbeiten, nach der in Zukunft die Eltern auf Grundlage der Empfehlung einer Bildungskonferenz über den Lernort ihres Kindes entscheiden sollen – wobei noch offen ist, ob Müttern und Vätern wirklich das Letztentscheidungsrecht zugestanden wird.
Dynamik gewinnen
Die Diskussionen über die Umsetzung der BRK haben gerade erst begonnen. Sie werden dann an Dynamik gewinnen, wenn Eltern mit ihren Klagen auf Zulassung ihrer Kinder zu den allgemeinen Schulen erfolgreich sind. Denn in diesem Fall werden sich die Landesregierungen der Frage stellen müssen, wie inklusiver Unterricht innerhalb des bestehenden gegliederten Schulsystems organisiert werden kann. Wenn Lehrkräfte im Unterricht nicht mehr alleine vor der Klasse stehen, wird dies über kurz oder lang auch zu einer grundlegenden Veränderung des Berufsbildes führen – und das sind doch keine schlechten Aussichten.