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Kindererholungsheime

Empathielos streng, fast militärisch

Ab den 1950er-Jahren wurden in Westdeutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder auf ärztliches Anraten in Kindererholungsheime geschickt. Die Zustände dort waren in den ersten Jahrzehnten vielfach von Missbrauch und Gewalt geprägt.

Haus Nickersberg: Postkarte Kinderkurheim Paul Bartsch, um 1959 (Foto: Stadtgeschichtliches Museum/Stadtmuseum Bühl)

Erst allmählich wird dieses Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte aufgearbeitet. Unser Autor, der Schriftsteller und freie Journalist Anton Ottmann, war eines dieser Kinder. Er verbrachte mehrere Wochen im Kinderkurheim „Nickersberg“, das von dem ehemaligen NS-Funktionär Paul Bartsch betrieben wurde.

Mit den Zuständen in den Kindererholungsheimen nach dem Krieg beschäftigt sich erstmals die Sonderpädagogin und Autorin Anja Röhl. In ihrem neuen Buch „Das Elend der Verschickungskinder“* stellt sie fest, dass es bis in die 1970er-Jahre über 1.000 solcher Einrichtungen in der alten Bundesrepublik gegeben hatte und dort zwischen acht und zwölf Millionen Kinder zeitweise untergebracht waren. Ohne ausgewiesene pädagogische Konzeption orientierten sich viele Betreuerinnen und Betreuer an den Regeln aus der Zeit des Dritten Reiches, nach denen Kinder nicht durch angeblich zu großes Verständnis und menschliche Wärme verweichlicht werden sollten. Dementsprechend war das Verhalten der Aufsichtspersonen durch „Härte, Kälte und Disziplinierung“ geprägt. Einziger Gradmesser für einen erfolgreichen Aufenthalt war eine deutliche Gewichtszunahme der Kinder.

Ich selbst hatte als Kind keine guten Erfahrungen im Kinderkurheim „Nickersberg“ (1950 –1963) im Schwarzwald gemacht und suchte über die Tagespresse Zeitzeugen. Es meldete sich unter anderem Axel, der 1958 als Neunjähriger wegen Untergewichts dort fünf Wochen zubrachte. Er berichtet: „Wir mussten uns sofort nach dem Frühstück auf im Freien aufgestellte Bettgestelle legen und bis zum Mittagessen in der prallen Sonne liegend ausharren. Damit man nicht direkt auf den rostigen Bettgestellen lag, holte man sich vorher aus einem Schuppen eine meist mit Urinflecken versiffte, aufgeplatzte Matratze als Unterlage.“ Über die sanitären Verhältnisse führt er aus: „Es gab für mehrere Jungen-Gruppen nur zwei Toiletten. Oft waren sie verstopft und liefen über, so dass die Fäkalien auf dem Boden schwammen. Repariert wurden sie manchmal erst nach Tagen, sodass in der Zwischenzeit nur eine Toilette zur Verfügung stand. Da sie abends nicht mehr zugänglich waren, machten viele Kinder ins Bett. Man wurde ausgeschimpft, dann wurde die Matratze einfach umgedreht.“

Schläge und Demütigungen

Die damals sechsjährige Andrea berichtet, dass sie einmal „den Hintern versohlt bekam“, weil sie den Teller nicht leer aß und sie gesehen hatte, dass andere ihr Erbrochenes wieder aufessen mussten. Außerdem durfte sie sich von den Eltern, die sie mit dem Auto gebracht hatten, nicht verabschieden. Die damals siebenjährige Toni war vor Weihnachten 1952 für sechs Wochen zur Kur. Als das von Heimweh geplagte Kind danach mit den anderen in den Bus zurück nach Berlin einsteigen wollte, teilte man ihr mit, dass sie weitere sechs Wochen bleiben müsse, weil sie an Gewicht verloren habe. Die Eltern warteten zu Hause vergeblich auf sie, sie waren nicht benachrichtigt worden.

Weitere Zeitzeugen beschreiben ähnliche Vorfälle, so dass man die Betreuung der Kinder insgesamt nur als menschenverachtend bezeichnen kann. Das Essen diente der reinen Nahrungsaufnahme und wurde von allen als ekelerregend bezeichnet. Liegekuren an der frischen Luft, Gewaltmärsche bei jedem Wetter und kaltes Duschen sollten den Körper ertüchtigen, der menschliche Umgang mit den Kindern war empathielos streng, fast militärisch. Zwei Kinder meinten sich zu erinnern, dass „Nazi-Lieder“ gesungen wurden. Kranke Kinder wurden zwar in einer „Krankenbaracke“ untergebracht, blieben dort aber ohne ärztliche Behandlung, eine „Tante“ schaute gelegentlich nach ihnen.

Leiter mit Nazi-Vergangenheit

Als Leiter des Heimes fungierte Paul Bartsch, von Beruf Hilfs- und Handelsschullehrer. Bei Eltern und Kindern gab er sich als der „Onkel Doktor“ aus – bei den Behörden als „praktischer Psychologe“, „Psychotherapeut“ oder „Heimleiter“. Er verschwieg seinen Lehrerberuf, auch, dass er in den 1930er-Jahren in der Berliner Psychiatrie Wuhlgarten, in der über 1.000 Patientinnen und Patienten der Euthanasie zum Opfer fielen, als Anstaltslehrer tätig war. Es wurde auch nicht bekannt, dass er bis 1940 als „Reichsfachgruppenleiter“ des Nationalsozialistischen Lehrerbundes und als „Mitarbeiter im Rassenpolitischen Amt der NSDAP-Reichsleitung“ ein bedeutender NS-Agitator war.

Noch heute findet man in Universitätsbibliotheken seine Artikel in der Zeitschrift „Die Deutsche Sonderschule“, in denen er sich für Konzentrationslager, Zwangssterilisation und Euthanasie aussprach, lange bevor diese Maßnahmen richtig anrollten. Er forderte seine Kollegen auf, die „brauchbare Schülerschaft in die Lebensformen des Dritten Reiches einzuführen“ und die „unbrauchbaren dagegen rücksichtslos auszumerzen“. Als Aufgaben der Sonderschullehrer sah er: „Die erbbiologische Bestandsaufnahme und Sichtung der erbkranken Bevölkerung, die Mitarbeit in den kriminalbiologischen Forschungsstellen, die Meldepflicht für die Durchführung des Sterilisationsverfahrens und die Übernahme von Propagandaaufgaben“. Von Schwerkranken verlangte er den „stillen Verzicht auf Eigenglück und zukünftiges Leben“.

Ab 1940 wurde es ruhig um ihn, er war als Stabsintendant in die Wehrmachtsverwaltung eingetreten, was ihm ermöglichte, nebenbei in Erziehungswissenschaft zu promovieren und damit die Voraussetzung für eine ihm zugesagte Dozentenstelle in einer Lehrerbildungsanstalt zu erfüllen. Nach dem Krieg gab er an, in den 1930er-Jahren in der Wirtschaft gearbeitet zu haben, in den 1940er-Jahren als psychologischer Berater im Kinderheim von Else Kreiter, die er später heiratete. Sie war von Beruf „Gewerbeschullehrerin“ und leitete ab 1939 in Berlin ein Kinderheim, das während des Krieges zuerst nach Rokotten bei Schwerin, dann 1944 nach Heiligenstadt verlegt wurde. Nach der Heirat Anfang 1945 übernahm Bartsch dann schrittweise die Leitung des in der sowjetischen Zone gelegenen Heimes.

Als aus Berlin keine Kinder mehr zugewiesen wurden, gab das Ehepaar das Heim 1949 auf und ging mit dem aus „Volksdeutschen“ bestehenden Personal in den Westen. Hier eröffneten sie das „Kinderkurheim Dr. Paul Bartsch“ auf dem Nickersberg. Da die 15 meist ungelernten Frauen in ihre Heimatländer im Osten nicht zurückkehren konnten und keine Alternative hatten, war von ihnen nicht zu erwarten, dass sie etwas über die Vergangenheit des Ehepaares ausplaudern würden.

Geschönte Vita

Zur Absicherung seiner neuen Identität änderte Bartsch immer wieder skrupellos persönliche Daten und besorgte sich Gefälligkeitsschreiben von Behördenvertretern. So legte er bei Bewerbungen eine Bescheinigung der Staatsanwaltschaft Berlin vor, dass gegen einen „Otto Bartsch“ nichts vorliege, was akzeptiert wurde, obwohl der Vorname nicht stimmte. So wie Bartsch gab es viele ehemalige Nationalsozialisten, die sich aus Angst vor Entlarvung eine geschönte Vita zulegten und die dabei von „alten Kameraden“ unterstützt wurden. Aber nicht alle waren dabei auch wirtschaftlich so erfolgreich wie Bartsch, der nach 13 Jahren Heimleitung die Einrichtung „Nickersberg“ mit reichlich Gewinn an die katholische Kirche verkaufen konnte. Er erhielt eine große Summe Bargeld und eine lebenslange Pension in Anlehnung an die Beamtenbesoldung.

Anton Ottmann: Gewitternächte in Nickersberg, das Kinderheim des Dr. Bartsch. Verlag Lindemanns, Bretten, November 2021.

Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Psychosozial-Verlag, Gießen 2021.

Meldebogen von Paul Bartsch zur „Entnazifizierung“ mit der Verneinung der Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen NS-Organisationen (Foto: Archiv Ortenaukreis, Sign. KAO BH-Sasw-24)