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Initiative „Bildung. Weiter denken!“

Ein verlorenes Jahrzehnt

Deutschland solle „Bildungsrepublik“ werden, jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft den Aufstieg schaffen. Das versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Dresdner Bildungsgipfel 2008. Vom Aufbruch ist seither nicht viel zu spüren.

Foto: Pixabay / CC0

Der Anspruch hätte höher kaum sein können: Beim Bildungsgipfel 2008 riefen die Ministerpräsidenten der Länder und Kanzlerin Merkel die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus. Jeder Mensch solle in unsere Gesellschaft integriert werden, betonte die Bundeskanzlerin. Kurzum: Der Sohn einer türkischstämmigen Reinigungskraft sollte die gleichen Bildungschancen haben wie die Tochter eines Professors. Bund und Länder wollten damit an der Achillesferse des deutschen Bildungssystems ansetzen. In kaum einem anderen Industriestaat hängt der Bildungserfolg der Kinder derart stark von der sozialen Lage ihrer Familien ab, stand schon in der PISA-Studie 2000.

Mehr als zehn Jahre nach dem Dresdner Gipfeltreffen und fast zwei Jahrzehnte nach dem „PISA-Schock“ zeigt sich eine gemischte Bilanz. Zwar haben mehr Jugendliche höhere Schulabschlüsse, mehr Menschen nehmen ein Studium auf oder bilden sich weiter. Auf der anderen Seite bleibt aber ein fester Sockel der Bildungsarmut. Kinder, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen oder Einwandererfamilien stammen, haben noch immer schlechtere Bildungschancen. Die „Baustelle Bildungsrepublik“ gleicht dem glücklosen Neubau des Berliner Flughafens BER. Seit mehr als einem Jahrzehnt wird an verschiedenen Stellen fleißig gewerkelt. Eine echte Strategie ist jedoch nicht zu erkennen, die Fortschritte bei der Chancengleichheit sind überschaubar.

Soziale Kluft wird größer

Die soziale Spaltung zeigt sich auch bei den Kompetenzen im Fach Mathematik. Einen permanenten Stillstand verzeichnen die Studien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, die das Erreichen der zwischen den Bundesländern vereinbarten Bildungsstandards prüfen. Der Vorsprung der sozial besser gestellten Neuntklässler ist zwischen 2012 und 2018 sogar von 79 auf 82 Testpunkte leicht gestiegen. In elf der 16 Bundesländer hat sich die soziale Kluft verfestigt. Die jüngst veröffentlichte PISA-Studie zeigt auch nur unwesentlich bessere Ergebnisse. Der Lernvorsprung von 15-Jährigen aus besser situierten Familien bei der Lesekompetenz ist nur leicht geschrumpft. Geht es grundsätzlich um die Verbesserungen der Kompetenzen, lassen sich kaum Veränderungen nachweisen

An den Grundschulen zeigten sich bei der Kontrolle der Bildungsstandards zwischen 2012 und 2016 beim Zuhören und beim Lesen keine Verbesserungen. Ähnliches gilt für die Neuntklässler: In den Fächern Mathematik (-1 Punkt), Biologie (-3), Physik (-3) und Chemie (-6) gibt es einen leichten Rückgang der Leistungen. Lediglich beim Lesen (Deutsch) und Leseverstehen (Englisch) sind Fortschritte zu verzeichnen. Dabei gibt es auch hier gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern. Die Hoffnung, dass Bildungsstandards und Vergleichstests zu besseren Leistungen und gleichwertigen Lebensverhältnissen beitragen, hat sich in diesem Jahrzehnt offenkundig nicht erfüllt. Zumindest haben die Länder zu wenige zielführende politische Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen. Mehr noch: Die Zahl der jungen Menschen ohne einen Schulabschluss steigt wieder. Seit 2013 ist die Quote der Jugendlichen, die das Schulsystem in Deutschland ohne einen Abschluss verlassen haben, von 5,7 auf 6,8 Prozent (2018) gewachsen.

Wer aber nicht zumindest einen Hauptschulabschluss hat, wird von der Ausbildung faktisch ausgeschlossen. So bleiben 1,48 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne Berufsausbildung. Das sind 15,1 Prozent dieser Altersgruppe. Sie befinden sich auch nicht in einem Freiwilligendienst oder einer Bildungsmaßnahme. Ihnen drohen später Langzeitarbeitslosigkeit und/oder immer wieder kurzfristige Jobs mit schlechter Bezahlung. So lag die Arbeitslosenquote zuletzt im Schnitt bei 5,3 Prozent, bei den Ausbildungslosen hingegen bei 17,4 Prozent.

Fortschritte beim Kita-Ausbau

Die sozialen Spannungen steigen, wenn Betriebe lauthals über einen vermeintlichen Azubi-Mangel klagen, gleichzeitig aber eine hohe Zahl junger Menschen den Schritt von der Schule in die Ausbildung nicht schafft. Die Ausbildungslosigkeit spielt in der bildungspolitischen Diskussion trotzdem nur eine untergeordnete Rolle. Wenn sich aber diese Jugendlichen nicht mehr gesehen fühlen, droht sich die Krise politischer Repräsentanz weiter zuzuspitzen. Unter dem Strich bleibt: In Sachen Chancengleichheit hat das Bildungssystem mindestens ein Jahrzehnt verloren.

Geht es hingegen nicht um sozialen Ausgleich, sondern um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sind Fortschritte zu verzeichnen – so beim Ausbau der Krippenplätze und der schulischen Ganztagsangebote. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass es an diesem Punkt einen breiten Konsens zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, progressiven und konservativen Parteien gibt. Immerhin 34,3 Prozent der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, hatten 2019 einen Krippenplatz, im Jahr des Dresdner Bildungsgipfels 2008 waren es lediglich 17,6 Prozent. Hier gab es und gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern. Letztlich war der Krippenausbau im vergangenen Jahrzehnt ein „Aufbau West“, da die ostdeutschen Länder schon früher ein wesentlich größeres Angebot hatten.

In der Tat gibt es auch beim Ausbau der Ganztagsangebote an Grundschulen deutliche Fortschritte, von einer flächendeckenden Versorgung ist man jedoch weit entfernt. Zurzeit haben 41,7 Prozent der Grundschüler einen solchen Platz, 2008 waren es lediglich 18,9 Prozent. Die regionalen Unterschiede sind auch hier groß: In Hamburg liegt die Quote bei 98,3 Prozent, in Baden-Württemberg bei 17,7 Prozent.

Diese Erfolge stehen zudem auf einem bröckelnden Fundament. Der eklatante Fachkräftemangel droht den Ausbau der Krippen und der Ganztagsangebote an Grundschulen auszubremsen. Bis 2025 fehlen – folgt man der aktuellen Einschätzung der Kultusministerkonferenz  – an den Grundschulen allein für die Sicherung des Halbtagsbetriebs 14.000 Lehrkräfte. Und der Nationale Bildungsbericht sieht – selbst bei gleichbleibenden Ausbildungszahlen und gleichbleibendem Personalschlüssel – bei den Erzieherinnen und Erziehern eine Deckungslücke von bis zu 66.000 Fachkräften. Bei dringend notwendigen Qualitätsverbesserungen wächst der Bedarf auf 309.000 zusätzliche Fachkräfte.

Fachkräfte fehlen

Es ist zu befürchten, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung an Grundschulen, den die Bundesregierung ab dem Jahr 2025 versprochen hat, nicht zuletzt am Fachkräftemangel scheitern wird. Dem Krippenausbau setzt dieser Mangel ebenfalls enge Grenzen. Obwohl das Platzangebot steigt, stagnieren die Beteiligungsquoten der Kinder. Das hängt auch mit höheren Geburtenraten und einem gestiegenen Bedarf der Eltern zusammen. Es fehlt schlicht das Personal, um diese Nachfrage zu bedienen.

Wenig optimistisch stimmt zudem, dass Deutschland – gemessen an seiner Wirtschaftskraft – zuletzt wieder weniger ins Bildungswesen investiert. Lag der Anteil der öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildung 2014 noch bei 6,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ist dieser Anteil bis 2017 auf 6,3 Prozent gesunken. Das hat gravierende Folgen: Personalnot in Schulen und an Kitas, mangelnde Ausstattung für inklusives Lernen oder die Integration Geflüchteter – wenn Knappheit herrscht oder ein System nicht funktioniert, trifft es die Gruppe der sozial Benachteiligten am stärksten. Wer Demokratie stärken und sozialen Ausgleich garantieren will, muss daher einen Bauplan für die Bildungsrepublik entwickeln. Es ist höchste Zeit für eine echte Bildungsstrategie, die mehr Chancengleichheit sichert und für gute und attraktive Arbeit im Bildungswesen sorgt.