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Mobilität im Bildungssystem

Die Grenzen der Freiheit

Wenn Lehrkräfte den Arbeitsort wechseln wollen, scheitern sie oft an den Grenzen der Bundesländer. Es droht der Verlust eines Teils der Altersversorgung, wenn der Arbeitgeber die Lehrkräfte nicht freigibt. Das Ländertauschverfahren hilft nur wenigen weiter.

Ein Umzug in ein anderes Bundesland bedeutet für verbeamtete Lehrkräfte oft, dass sie dort nicht in ihrem Beruf arbeiten können. (Foto: IMAGO/Westend61)

Wiebke John sitzt in ihrem Haus in Aurich, Ostfriesland, und betreut seit vier Jahren ihre Kinder. Die Pädagogin würde gern in der Grundschule auf der gegenüberliegenden Straßenseite oder an einer der vielen anderen Grundschulen arbeiten, denen Lehrkräfte fehlen. Doch sie darf nicht. Das Land Hessen, hier ist sie noch Beamtin, gibt sie nicht frei. „Das passt nicht mehr in die Zeit“, sagt die 42-Jährige, die GEW-Mitglied ist. Sie hat jahrelang in einer Grundschule in Frankfurt am Main gearbeitet, bis ihr Mann bei einem Freund in Aurich in eine Anwaltskanzlei mit einstieg. John zog mit den Kindern mit, zurück in ihre alte Heimat.

Anfang 2022 hat John das erste Mal eine Freistellung für den länderübergreifenden Lehrkräfteaustausch beantragt – und wurde abgelehnt. Dieses Jahr stellte sie den gleichen Antrag und bat parallel um generelle Freistellung. Alles abgelehnt. Hessen hält sie fest. „Aufgrund des allgemeinen Lehrkräftemangels insbesondere in Frankfurt am Main ist eine Nachbesetzung der Stelle mit einer ausgebildeten Lehrkraft nicht wahrscheinlich“, teilt das Schulamt mit. Vor dem persönlichen überwiege das allgemeine Interesse, den Unterricht sicherzustellen.

Eigentlich erfülle sie wichtige soziale Kriterien für den Ländertausch wie die Familienzusammenführung, die Nähe von Dienst- und Wohnort, ein eigenes Haus und einen pflegebedürftigen Vater, sagt John. „Was muss man noch vorweisen? Ich werde sowieso nicht wieder in Hessen arbeiten.“ Mehrere Auricher Schulen hätten sie gern im Team. Würde sie aber von sich aus den Beamtenstatus verlassen, verlöre sie einen großen Teil ihrer Pensionsansprüche. Auch die künftige Krankenversicherung wäre unklar. „Man rät mir dringend davon ab, auszusteigen“, erzählt die Lehrerin. Also hat sie schon zweimal die Elternzeit verlängert und wartet auf eine neue Chance im neuen Jahr. Ausgang ungewiss.

Wiebke John würde gerne wieder als Lehrerin in ihrer alten Heimat arbeiten, erhält von ihrem alten Dienstherrn aber keine Freigabe. (Foto: privat)

Jährlich etwa 7.500 Anträge

Eine E&W-Anfrage bei der Kultusministerkonferenz (KMK) ergab: Lediglich etwa ein Drittel der Anträge im länderübergreifenden Tauschverfahren führt zu einer Versetzung, wie KMK-Sprecher Torsten Heil berichtet. Über das Verfahren würden jährlich zum 1. Februar und zum 1. August etwa 7.500 Anträge bearbeitet. Der Tausch erfolge in der Regel stellenneutral. Heil: „Die Länder übernehmen so viele Lehrkräfte, wie sie abgeben.“ Dabei würden Lehrkräfte oft Versetzungsanträge für mehrere Länder stellen und mehrere Verfahren parallel nutzen, um ihre Wechselchancen zu erhöhen. „Wenn eine Übernahme über das Tauschverfahren nicht realisiert werden kann, ist ein Wechsel dennoch über die Einstellungsverfahren möglich“, so Heil. Insbesondere im Rahmen von Stellenausschreibungen der Schulen könnten sich Lehrkräfte in ihrer Wunschregion bewerben. Die Schulverwaltungen der Länder seien bemüht, Wechsel insbesondere aus persönlichen, familiären oder sozialen Gründen zu ermöglichen.

Die Realität sieht angesichts der Konkurrenz um Lehrkräfte mitunter anders aus. Eine Antwort des niedersächsischen Kultusministeriums auf eine Anfrage der FDP-Landtagsfraktion offenbarte drastischere Zahlen: Von mehr als 640 Anträgen niedersächsischer Lehrkräfte zum August 2022 waren 505 nicht erfolgreich – fast 80 Prozent. Nur für 138 Lehrkräfte wurde der Wechsel in ein anderes Land vereinbart. Gleichzeitig nahm Nieder-sachsen per Tauschverfahren 153 Kolleginnen und Kollegen auf. In den Jahren davor waren die Erfolgsquoten nicht höher.

„Einen rechtlichen Anspruch auf eine Freigabe gibt es aber nicht.“ (Gesa Bruno-Latocha)

„Beamtinnen und Beamte sind darauf angewiesen, dass der Dienstherr sie gehen lässt“, sagt Gesa Bruno-Latocha, Referentin für Tarif- und Beamtenpolitik beim GEW-Hauptvorstand. Als Schutz vor gegenseitiger Abwerbung würden die aufnehmenden Länder eine Freigabeerklärung des alten Dienstherrn erwarten. „Einen rechtlichen Anspruch auf eine Freigabe gibt es aber nicht“, sagt Bruno-Latocha. „Stattdessen bekommt man den Beamtenstatus als lebenslanges Dienst- und Treueverhältnis deutlich zu spüren.“ Wer trotzdem kündigt, droht einen Teil der Altersversorgung zu verlieren. Nur wenige Bundesländer zahlen ausscheidenden Beamten ein „Altersgeld“, das die Beamtenversorgung anteilig abbildet.

Weiterentwicklung des Lehrertauschverfahrens

Doch auch für angestellte Lehrkräfte ist ein Länderwechsel eine Reise ins Ungewisse: In der Praxis verlangen die Bundesländer auch von ihnen eine Freigabeerklärung. Es ist zudem keineswegs sicher, wie viele Dienstjahre und Erfahrungsstufen der neue Dienstherr bei einem Wechsel anerkennt. „Wir brauchen endlich ein Ländertauschverfahren, in dem Ausbildungen und Erfahrungsstufen von den jeweiligen Ländern einheitlich anerkannt werden“, sagt Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule. Eine schon erworbene Altersvorsorge dürfe nicht verfallen. Beamtinnen und Beamte sowie Tarifbeschäftigte müssten bei einem Tauschwunsch gleich behandelt werden. „Die viel geforderte Mobilität der Lehrkräfte darf nicht von der Kultusbürokratie ausgebremst, sondern muss unterstützt werden – gerade, wenn Menschen aus familiären Gründen umziehen wollen oder müssen.“

Schon 2017 hatte der GEW-Gewerkschaftstag in Freiburg im Breisgau einen Antrag der Bundesfachgruppe Gymnasien mit dem Titel „Mobilität für Lehrkräfte ermöglichen – Ländertauschverfahren optimieren“ beschlossen. Seither setzt sich die GEW verstärkt für eine Weiterentwicklung des Lehrertauschverfahrens und eine gleichberechtigte Einbeziehung beamteter und tarifbeschäftigter Lehrkräfte ein. „Bei einem Antrag einer Kollegin oder eines Kollegen auf den Wechsel des Bundeslandes ist die Freigabe durch die abgebende Behörde zu erteilen“, heißt es im Beschluss. Zudem sollten Personalvertretungen an der zentralen Tauschsitzung der Länder teilnehmen, um Gleichbehandlung zu gewährleisten und soziale Härten zu vermeiden.

„Dieses System ist nicht mehr zeitgemäß.“ (Lukas Sturm)

Die hohen Hürden beim Ortswechsel und bei der Lebensplanung, die mit der Verbeamtung einhergehen, sind nicht nur ein privates Problem einiger weniger Kolleginnen und Kollegen – offenbar verschärfen sie die Mangelsituation in den Schulen. Viele junge Leute seien heute nicht mehr bereit, diese Einschränkungen hinzunehmen, berichtet Lukas Sturm, seit vier Jahren Grundschullehrer in Heidelberg. „In vielen Gesprächen während meines Studiums und mit Personen, die ein Lehramtsstudium abgebrochen haben, kam vor allem ein Grund zur Sprache: fehlende Flexibilität und Freiheit bei der Lebensgestaltung durch eine Verbeamtung“, berichtet das GEW-Mitglied. Die Perspektive, den Arbeitsplatz nicht selbst auszuwählen, nur schwer wechseln zu können und dabei in den Grenzen eines Bundeslandes gefangen zu sein, schrecke viele junge Leute ab. „Dieses System ist nicht mehr zeitgemäß.“

Sturm weiter: Mit Mitte oder Ende 20 den Arbeitsplatz und Wohnsitz für die kommenden Dekaden festlegen zu müssen, sei für die junge Generation keine akzeptable Zukunftsaussicht. Die Sicherheit einer Verbeamtung falle heute bei der Jobentscheidung weniger ins Gewicht als die Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit aus privaten und familiären Gründen. Die Forderung vieler junger Leute laute deshalb: Die finanziellen Anreize für angestellte Lehrkräfte müssten größer, der Jobwechsel auch über Bundesländergrenzen hinweg müsse deutlich leichter werden. Das sieht Lehrerin John nicht anders.