„Wirtschaftsmärchen“
Die Armen zahlen die Zeche
Neoliberale Mythen über Wirtschaft, Arbeit und Sozialstaat dominieren den politischen und medialen Diskurs. Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf haben sich in ihrem Buch „Wirtschaftsmärchen“ kritisch mit diesen Narrativen auseinandergesetzt.
E&W veröffentlicht in einer vierteiligen Serie ausgewählte Kapitel. Zweiter Teil: „Einkommensteuern belasten die Leistungsträger.“
Es war einmal ein junger Finanzstaatssekretär der CDU, dessen Gespür für gefällige Wahlkampfparolen ebenso groß war wie seine Karrierehoffnungen. Sein Name war Jens Spahn. Im Juni 2017 sagte er der Deutschen Handwerks Zeitung: „Wir wollen möglichst viele Leistungsträger entlasten. Und damit meine ich nicht Millionäre mit Jacht und Villa. Ich meine die Mittelschicht – Angestellte und Selbstständige.“ Die Handwerksbosse werden es mit Zufriedenheit gelesen haben.
Wer in der Zukunft entlasten will, der unterstellt, dass in der Gegenwart (zu) viel belastet wird. In diesem Sinne will sich Spahn steuerpolitisch für „Leistungsträger“ in die Bresche werfen. Das ist ein neoliberaler Dauerbrenner, vor allem in Wahlkampfzeiten – aus gutem Grund: Die Rede von der „Entlastung der Leistungsträger“ dürfte auf breite Zustimmung stoßen. Dies umso mehr, als „Leistungsträger“ in diesem Zitat ja sogar die „Mittelschicht“ umfassen soll, der sich viele Menschen zurechnen.
Und doch dient diese Parole letztlich dazu, steuerliche Umverteilung von unten nach oben zu rechtfertigen (und zugleich unkenntlich zu machen). Sie macht dies aus mindestens zwei Gründen: Erstens bezahlt der ärmere Teil der Bevölkerung gar keine Einkommensteuer. Die Einkommen dieser Menschen sind schlicht zu niedrig. Viele von ihnen gehen allerdings sehr wohl einer Arbeit nach; oft genug werden ja gerade besonders belastende und anstrengende Tätigkeiten schlecht bezahlt. Viele Menschen mit geringem Einkommen können, ja müssen also durchaus als „Leistungsträger“ im Sinne der (auf Erwerbsarbeit verkürzten) Definition von Spahn gelten. Von einer Senkung der Einkommensteuer oder anderer Steuern hätten sie aber nichts.
Am Ende wird bei jeder Entlastung des mittleren Einkommensbereichs eine mindestens genauso hohe, wenn nicht noch höhere Entlastung der Spitzenverdienenden herauskommen.
Ganz im Gegenteil: Verschlechtern oder verteuern sich aufgrund geringerer Steuereinnahmen bestimmte öffentliche Leistungen, so trifft dies die Ärmsten mehr als Reiche. Denn vor allem erstere sind auf preiswerte und gute öffentliche Dienste (etwa verlässliche Kitas, Schulen, Jugendzentren und Personennahverkehr) sowie intakte Infrastrukturen angewiesen. Auch trifft es die Ärmsten besonders, wenn Einkommensteuersenkungen etwa durch höhere Umsatzsteuern gegenfinanziert werden, wie Neoliberale es gerne fordern.
Hinzu kommt zweitens: Am Ende wird bei jeder Entlastung des mittleren Einkommensbereichs eine mindestens genauso hohe, wenn nicht noch höhere Entlastung der Spitzenverdienenden herauskommen. Der Grund dafür ist die progressive Gestaltung der Einkommensteuer, wie sie fast alle Staaten haben. Wer ein höheres Einkommen bezieht, kann und soll mehr zum Gemeinwesen beitragen. Deshalb sind die Steuerzahlungen auf hohe Einkommen in der Regel höher als auf kleine und mittlere. In vielen Ländern (auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz) wird dies dadurch gewährleistet, dass die Steuersätze für hohe Einkommensteile höher sind als für untere und mittlere Teile.
Auf die ersten 50.000 Euro bezahlt ein Millionär dann (unter ansonsten gleichen Voraussetzungen) die gleichen Steuern wie jemand, dessen Einkommen diese 50.000 Euro nicht überschreitet. Erst auf die darüber hinausgehenden Einkommensbestandteile leistet der Millionär einen höheren Steuersatz. Im Klartext: Nicht nur Spahns „Angestellte und Selbstständige“ freuen sich über Steuersenkungen, sondern auch und gerade Großunternehmer und Top-Manager.
Dazu ist es notwendig, nicht einfach nur die Steuersätze auf untere und mittlere Einkommensbestandteile zu senken, sondern zugleich die Steuersätze auf hohe anzuheben.
Dieser unschöne Effekt lässt sich vermeiden. Dazu ist es notwendig, nicht einfach nur die Steuersätze auf untere und mittlere Einkommensbestandteile zu senken, sondern zugleich die Steuersätze auf hohe anzuheben. Davon aber wollen Spahn & Co. nichts wissen. Und genau aus diesem Grund ist es reine Augenwischerei, wenn sie behaupten, sie zielten mit ihren Entlastungen auf „die Mittelschicht“. Ein neoliberales Märchen eben.
Kai Eicker-Wolf ist Referent für finanzpolitische Fragen der GEW Hessen, Patrick Schreiner ist Mitarbeiter bei der ver.di-Bundesverwaltung, Abteilung Wirtschaftspolitik. Das Buch der beiden geht in Teilen zurück auf die Kolumne „Märchen des Neoliberalismus“, die die Autoren in den Publikationen Lunapark21 und OXI veröffentlichten. Patrick Schreiner, Kai Eicker-Wolf: Wirtschaftsmärchen. Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales, PapyRossa-Verlag 2023 |