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Mobbing

„Da guckt jemand hin“

Jedes zehnte Kind in der Schule erlebt Mobbing. In schweren Fällen leiden die Mädchen und Jungen darunter bis ins Erwachsenenalter. Lehrkräfte können viel bewirken.

Mobbing kann jeden treffen. (Foto: IMAGO/Bihlmayerfotografie)

Wenn der Film läuft, wird es in der Klasse immer ganz still: Zwei hätten ihn festgehalten, während mehrere Schüler auf ihn einprügelten, berichtet ein Junge in dem Videoclip. „Manchmal wurde ich auch einfach total ignoriert.“ Die anderen Kinder hätten nichts gemacht, zugeguckt oder weitergespielt. Ein Mädchen sagt, dass es bei ihr mit Lästern losging: „Ich habe mich so unwohl gefühlt, war die ganze Zeit einfach nur traurig.“ Eine andere Schülerin gesteht: „Da habe ich mir gewünscht, dass ich einfach sterbe.“

Der zweiminütige Kurzfilm „Schulweg in die Angst“ ist Teil eines Workshops gegen Mobbing – und zeigt auf, wie sehr Schülerinnen und Schüler darunter leiden, wenn sie systematisch fertig gemacht werden. „Oft sind sich die Kinder gar nicht bewusst, was Mobbing mit den Opfern macht“, sagt Lehrerin Sybille Schwarz vom Mediationsteam am Schuldorf Bergstraße in Südhessen.

„Mit der Pubertät passiert in dieser Altersphase sehr viel, was Konfliktpotenzial bietet.“ (Sybille Schwarz)

Deshalb wird Prävention an der Gesamtschule in Seeheim-Jugenheim großgeschrieben. Der Workshop ist Pflicht für alle 5. und 6. Klassen. Zudem wird jederzeit ein Anti-Mobbing-Training eingesetzt, wenn es in einer Klasse erste Anzeichen gibt, dass etwas schiefläuft. „Wichtig ist, so früh wie möglich aktiv zu werden“, erklärt Schwarz. Da lasse sich das Problem in der Regel noch leicht aus der Welt schaffen. Häufig fängt es damit an, dass eine Freundschaft zerbricht und sich eine neue Clique bildet. Ein Mädchen drängt ihre ehemals beste Freundin bewusst aus der Gruppe – aus Angst, zum Schluss selber alleine dazustehen. Oder zwei Schülerinnen stehen auf denselben Jungen. „Mit der Pubertät passiert in dieser Altersphase sehr viel, was Konfliktpotenzial bietet“, sagt die Lehrerin.

„Oft sind sich die Kinder gar nicht bewusst, was Mobbing mit den Opfern macht“, sagt Lehrerin Sybille Schwarz vom Mediationsteam am Schuldorf Bergstraße in Südhessen. (Foto: Christoph Boeckheler)

Unter Mobbing leiden alle – auch Täterinnen und Täter

Mobbing ist vor allem in der Mittelstufe verbreitet. Studien zufolge sind etwa 13 Prozent aller Schülerinnen und Schüler direkt an Mobbing beteiligt, sagt der Erziehungswissenschaftler Sebastian Wachs von der Universität Münster: „In jeder Klasse sitzen etwa zwei Kinder, die entweder gemobbt werden oder selbst mobben.“ In der Oberstufe sieht es in der Regel besser aus. Mit zunehmendem Alter lernten die Jugendlichen, Probleme anders zu lösen, erklärt der Wissenschaftler. Allerdings zeigten Studien: „Gemobbt wird in allen Schulformen.“ Aber die Art und Weise unterscheide sich leicht: An Haupt- und Realschulen komme es häufiger zu physischer Gewalt, an Gymnasien würden Schülerinnen und Schüler eher verbal angegriffen und ausgegrenzt).

Was schlimmer ist? „Die Folgen können in beiden Fällen gravierend sein“, betont Wachs. Wer als Kind von schwerem Mobbing betroffen sei, leide mitunter noch als Erwachsener darunter. Die Opfer täten sich schwerer, Menschen zu vertrauen und Freunde zu finden. Sie litten häufiger unter Angststörungen und Depressionen. Das Spektrum der Folgen reiche bis zum Suizid.

Der Erziehungswissenschaftler vermeidet bewusst, bei Mobbing von Täterinnen oder Tätern zu sprechen: „Schließlich leiden diese auch.“ Diese Kinder und Jugendlichen seien nicht fähig, Konflikte sozialverträglich auszutragen. „Wir müssen uns bewusst machen, dass ihnen auch geholfen werden muss“, meint Wachs. Mobbing lasse sich nicht allein mit Persönlichkeitsmerkmalen erklären, sondern sei auch auf Erfahrungen in Familie und Schule zurückzuführen. In der Leistungsgesellschaft seien Kinder und Jugendliche sehr viel Druck ausgesetzt, den sie weiterreichten.

Personalmangel und zunehmende Armut begünstigen Mobbing

Auch am Schuldorf in Seeheim-Jugenheim macht Lehrerin Schwarz diese Erfahrung. Meist gehe es darum, sich selbst aufzuwerten, indem man andere abwertet. Die Täterinnen und Täter pickten sich irgendein Merkmal heraus: Schülerinnen und Schüler würden zum Beispiel fertig gemacht, weil sie besonders arm seien oder besonders reich, weil sie besonders gut in der Schule seien oder besonders schlecht. Oft treffe es jedoch Kinder, die vom Mainstream abweichen.

Die Sozialpädagogin Anne Korbach, Leiterin der Schulsozialarbeit in der Darmstädter Innenstadt Nord, beobachtet, dass Mobbing im vergangenen Jahr massiv zugenommen hat: „Es gibt aktuell viele Konflikte an Schulen.“ Sie vermutet, dass die Corona-Pandemie eine Ursache sein könnte. Viele Kinder hätten Schwierigkeiten damit, sozial miteinander umzugehen. Sie hätten offenbar den Umgang mit Konflikten nicht geübt. An Haupt- und Realschulen komme es verstärkt zu Bedrohungen und Schlägereien. „Das haben wir punktuell immer mal, aber nicht so massiv und gehäuft wie jetzt“, sagt die Sozialarbeiterin.

„Zudem müssen wir gemeinsam das soziale Miteinander an Schulen stärken.“ (Anne Korbach)

Begünstigt werde Mobbing auch durch strukturelle Rahmenbedingungen: Viele Familien hätten immer weniger Geld, die Schere zwischen Arm und Reich gehe weiter auseinander. „Das spüren die Kinder“, meint Korbach. „Dadurch entstehen Frust – und Überheblichkeit.“ Hinzu komme der Personalmangel an Schulen: Vielerorts fehlten Lehrkräfte, die Schulsozialarbeit benötige an einigen Schulen mehr Kapazitäten und Schulleitungsstellen seien mitunter nicht besetzt. Bei Mobbing brauche es klare Handlungsabläufe, betont die Sozialpädagogin: Welche Schritte sind wann erforderlich? Wann sind Gespräche mit den Eltern zu führen? Welche Anti-Mobbing-Strategien in der Klasse umzusetzen? Welche Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen? Wann ist das Jugendamt einzuschalten?

„Zudem müssen wir gemeinsam das soziale Miteinander an Schulen stärken“, betont Korbach. Dafür sei gute Präventionsarbeit das A und O. Viele Schulleitungen und Lehrkräfte seien sehr engagiert. Doch die vielen Anforderungen an Schulen kosteten Zeit und Kraft. Deshalb kämen immer mehr Lehrkräfte an ihre Grenzen, sagt die Sozialpädagogin. Dabei erlebe sie im Schulalltag immer wieder, wie wichtig es sei, genau hinzugucken und zuzuhören: „Das kann so viel bewirken.“

Wichtige Rolle der Lehrkräfte

„Lehrkräften kommt eine riesige Rolle zu, absolut“, bestätigt Erziehungswissenschaftler Wachs. „Ihre genuine Aufgabe ist Bildung und Erziehung.“ Sie könnten aktiv dazu beitragen, dass aus einer Klasse eine Gemeinschaft wird. Bei Mobbing seien sie meist die erste Vertrauensperson. Wenn Lehrkräfte nicht intervenierten, betrachteten Kinder das als stillschweigende Duldung, warnt er. In der Folge bewerteten sie eigenes Verhalten als nicht so schlimm, das Mobbing gehe weiter, andere Schülerinnen und Schüler machten mit. „Es entsteht ein Teufelskreis“, sagt Wachs. Allerdings zeigten Studien, dass Lehrkräfte häufig eingreifen. „Mit Erfolg.“

„Erfolgversprechend ist vor allem, möglichst viele Akteure mit ins Boot zu holen.“ (Sebastian Wachs)

Viele Schulen setzen erfolgreich auf den sogenannten No-Blame-Approach: Diese Methode verzichtet darauf, Täterinnen oder Täter zu benennen und zu bestrafen, sondern zielt darauf ab, ein Unterstützungsteam für das Opfer zusammenzustellen. Ein anderer Ansatz ist, die Täterinnen oder Täter klar mit ihrem negativen Verhalten zu konfrontieren. Wachs rät Schulen, so viele Werkzeuge wie möglich einzusetzen: „Erfolgversprechend ist vor allem, möglichst viele Akteure mit ins Boot zu holen.“ Alle Schulen benötigten Präventions- und Interventionspläne. „Aber nicht in den Schubladen, sondern als Handlungssicherheit in den Köpfen“, betont der Wissenschaftler. Er erlebe immer wieder, dass Lehrkräfte gar nicht wüssten, ob ihre Schule ein Konzept hat.

Am Schuldorf Bergstraße lassen sich Lehrkräfte über Monate hinweg zu Mobbing-Interventionsteams ausbilden. „Wichtig ist eine Kultur des Hinschauens“, stellt Schwarz fest. Ihre Kollegin Francesca Sohni ergänzt, dass Klassenleitungen meist ein sehr gutes Gefühl dafür hätten, wenn in ihrer Klasse etwas nicht stimmt. Oft braucht es gar nicht viel. „Es hilft immer, irgendwas zu machen“, sagt Schwarz. Wichtig sei, dass die Kinder erleben: „Da guckt jemand hin!“ 

  • Wie lässt sich Mobbing erkennen?

Regel Nummer eins: Hinschauen! Lehrkräfte bekommen in der Regel schnell mit, wenn ein Kind in ihrer Klasse oft bloßgestellt, gehänselt oder ausgeschlossen wird. Hellhörig sollten sie werden, wenn jemand nicht mehr gerne zur Schule geht, häufig unkonzentriert wirkt, schlechte Noten schreibt und sich immer mehr zurückzieht.

  • Wann handelt es sich um Mobbing?

Von Mobbing ist die Rede, wenn es regelmäßig über längere Zeit hinweg Übergriffe gibt und mehrere Menschen beteiligt sind. Nicht jeder Konflikt ist gleich Mobbing. So oder so sollten Lehrkräfte schnell aktiv werden. Gerade am Anfang ist das Problem meist leichter in den Griff zu bekommen.

  • Was sollten Lehrkräfte tun?

Lehrkräfte sollten zunächst das Gespräch mit dem betroffenen Kind suchen. Zudem ist ratsam, sich Unterstützung zu holen. Es gilt, das weitere Vorgehen mit Kolleginnen und Kollegen sowie der Schulsozialarbeit zu besprechen. In ernsten Fällen ist auch die Schulleitung einzuschalten. Da es sich bei Mobbing um ein Gruppenphänomen handelt, muss auch die Klasse einbezogen werden. Wichtig ist jedoch, nichts über den Kopf des Opfers hinweg zu unternehmen.