„Affirmative Action“
„Class und Race sind nicht dasselbe“
Im Sommer 2023 hat der Oberste Gerichtshof der USA die „Affirmative Action“ gekippt: Es sei verfassungswidrig, wenn private und öffentliche Universitäten und Colleges Minderheiten bei der Zulassung bevorzugten.
Damit verboten die Richter eine Praxis, die sich die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren nach langer Diskriminierung erkämpft hatte. Künftig werde die Zahl afroamerikanischer Studierender sinken, befürchtet der Harvard-Juraprofessor und Bestsellerautor Randall L. Kennedy im Gespräch mit der E&W.
- E&W: Professor Kennedy, wollen die meisten US-Amerikanerinnen und -Amerikaner nicht, dass Schwarze weiterkommen?
Prof. Randall L. Kennedy: Sagen wir so: Dass Universitäten und Hochschulen bei der Auswahl ihrer Studierenden neben Geschlecht, Herkunft, sportlichem Erfolg auch „race“ als Kriterium nehmen konnten, war in den USA schon lange unpopulär. Dennoch: Nicht jeder, der Quoten für ethnische Minderheiten ablehnt, ist ein Rassist. Manche finden es unfair, einzelne Gruppen trotz gleicher Qualifikation zu fördern, selbst wenn diese zuvor jahrzehntelang benachteiligt worden sind. Andere glauben, es schade den Begünstigten sogar. Dennoch sind unter den Gegnern natürlich auch Leute, die aus rassistischen Gründen alles ablehnen, was Schwarze voranbringt.
- E&W: Braucht es das Zugangskriterium „race“ noch, damit Nicht-Weiße dieselbe Chance auf Bildung bekommen wie Weiße?
Kennedy: Ja, denn in den acht US-Einzelstaaten, die die „Affirmative Action“ bereits abgeschafft haben, ist der Anteil Schwarzer und Latinos an Universitäten gesunken. Deswegen brauchen wir im Bildungswesen weiterhin Wege, Gruppen zu fördern, die historisch marginalisiert und vernachlässigt worden sind. Bildung erlaubt Leuten, die sozioökonomische Leiter hochzusteigen.
- E&W: Nur sehr wenige Universitäten und Colleges haben die „Affirmative Action“ auch angewendet. Warum gab es trotzdem massiven Widerstand gegen diese Praxis?
Kennedy: Tatsächlich sind die meisten Hochschulen froh, wenn sich überhaupt genügend Leute für ein Studium einschreiben. Aber bei den Universitäten, die die -„Affirmative Action“ nutzten, handelt es sich nun mal um die angesehensten! Für die sich – Beispiel Harvard – jährlich 60.000 Menschen bewerben, von denen aber nur 2.000 genommen werden. Es sind die Universitäten, die Eliten hervorbringen – und deswegen wurden sie so massiv attackiert. Diese Universitäten entscheiden mit darüber, wer im Senat, im Weißen Haus oder in der Chefetage eines Konzerns sitzt.
- E&W: Gegnerinnen und Gegner der „Affirmative Action“ argumentieren, diese sei unfair und benachteilige weiße oder asiatischstämmige Menschen. Was entgegnen Sie denen?
Kennedy: Dass die Behauptung, es handele sich um eine umgekehrte Diskriminierung, uralt ist, fast schon ein Reflex – und zwar ein lächerlicher. Dieser Vorwurf kommt immer auf, sobald Gesetze verabschiedet werden, von denen Schwarze profitieren. Er wurde vor Abschaffung der Sklaverei ebenso laut wie in den 1960er- und 1970er-Jahren, als mehrere Gesetze die Rassentrennung zumindest de jure aufhoben. Das Bedrohliche an der jüngsten Rechtsprechung ist, dass die Obersten Richterinnen und Richter keinen Unterschied machen zwischen einem oft rassistisch motivierten Versuch, Schwarze auszuschließen, und dem Versuch – auch als Mittel der Wiedergutmachung –, Schwarze zu inkludieren. Beides, sagen sie, sei diskriminierend und illegal. Das ist absurd.
- E&W: Sehen Sie bei der „Affirmative Action“ auch Schwächen?
Kennedy: Ja, wenn Bildungseinrichtungen mittels Quote Leute zulassen, die nicht die notwendigen akademischen Voraussetzungen mitbringen, um vom Besuch dieser Einrichtung zu profitieren – und deswegen durchfallen. Das ist eine Verschwendung, das ist dumm, das lehne ich ab. Aber ich unterstütze es, wenn man Menschen, die das Potenzial mitbringen, die Möglichkeit gibt, dieses auch zu nutzen!
- E&W: Wäre es, um mehr Chancengleichheit zu erreichen, besser, bei der Vergabe der Studienplätze auf „class“ statt auf „race“ zu setzen, also die sozioökonomische Herkunft eines Menschen zu berücksichtigen?
Kennedy: „Class“ und „race“ mögen sich überlappen, aber sie sind nicht dasselbe. In den USA verfügen selbst arme Weiße dadurch, wo sie wohnen oder dass sie ein Haus geerbt haben, oft über ein höheres Vermögen als Schwarze mit einem Mittelklasse-Gehalt. Das sind die versteckten Benachteiligungen, die mit der Hautfarbe einhergehen. Viele argumentieren, ein „Klassen“-Ansatz würde mehr schwarze Studierende an die Unis bringen. Ich bin da eher skeptisch. Außerdem ist der „class“-Ansatz naiv.
- E&W: Warum naiv?
Kennedy: Wer glaubt, dass all die Ultra-Konservativen, die die „Affirmative Action“ so heftig bekämpft haben, plötzlich eine „rassenneutrale“, weil jetzt auf sozialer Herkunft basierende alternative „Affirmative Action“ für alle Benachteiligten gut finden, der täuscht sich. Sie werden den „class“-Ansatz ebenso attackieren – und behaupten, dass Schwarze weiterhin bevorzugt würden, jetzt nur unter dem Deckmantel der Klassenzugehörigkeit. Außerdem: Wie soll Klasse als Kriterium umgesetzt werden? Über die Postleitzahl der Bewerberin oder des Bewerbers? All das ist juristisch leicht anzufechten. Und glauben Sie mir: Die Rechtskonservativen haben jede Menge Erfahrung, Geld und ideologischen Drang, um solche Rechtstreits zu führen. Die vergiftete Stimmung im Land gegen alles, was „oben“ und was „Elite“ ist, würde ihnen dabei auch noch Rückenwind geben.
- E&W: Wenn weder „race“ noch „class“ künftig Kriterien der Zulassung sein dürfen, können Universitäten und Colleges benachteiligte Gruppen zumindest im Namen der Vielfalt und Diversität unterstützen?
Kennedy: Ja, und das machen viele auch schon seit 30 Jahren, seit Gerichte immer wieder geurteilt haben, dass es keine Bevorzugung geben dürfe, um früheres Unrecht wiedergutzumachen. Bildungseinrichtungen war es immer erlaubt, mit bestimmten Auswahlkriterien das Ziel „Vielfalt“ zu erreichen. Damit konnten sie – ebenso wie Konzerne oder Organisationen – bequem unsere unrühmliche Geschichte der Rassentrennung und die Frage nach Wiedergutmachung umgehen. Sie betonen Diversität aber auch gerne, weil diese statt der wahrgenommenen Defizite einer ethnischen Minderheit deren Stärken betont. Sind Schwarze auf dem Campus, sühnt das nicht nur frühere Sünden, es ist sogar ein bereicherndes Muss, das den Austausch von Ideen ermöglicht und bestenfalls Vorurteile ab- und Empathie aufbaut.
E&W: Geschieht und gelingt das?
Kennedy: Nicht immer. Vor einigen Jahren habe ich einen Freund an der Texas Law School besucht. Kein einziger Schwarzer saß in seinem Seminar! Als ich danach mit den Studierenden sprach, sagten sie: Wir vermissen den Austausch mit Menschen, die andere Erfahrungen gemacht und daher vielleicht auch andere Ansichten haben als wir. Daher denke ich: Ja, vieles spricht dafür, eine Studienplatzvergabe auch mit Diversität zu begründen. Aber wenn Sie mich fragen, ob dieses Argument ebenso überzeugend ist wie das „race“-Argument? Dann ist meine Antwort: nein.