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Mobilität im Bildungssystem

Chance für Deutschland

Im deutschen Bildungssystem sind Kinder aus bildungsfernen und ärmeren Familien nach wie vor benachteiligt. Das hemmt die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Mobilität.

Der soziale Aufstieg findet in Deutschland nach wie vor nur als Ausnahme statt. Kinder aus bildungsfernen Schichten haben meist nur eine einzige Chance im Leben: eine gute Schulbildung. (Foto: IMAGO/Westend61)

Globalisierung und Digitalisierung verwandeln unsere Volkswirtschaften in regionale Produktionszentren, die durch globale Informations- und Wertschöpfungsketten eng miteinander verknüpft sind; die sich aber vor allem dort konzentrieren, wo Wettbewerbsvorteile geschaffen werden. Die Verteilung von Wissen und Fähigkeiten ist dabei entscheidend und hängt wiederum sehr eng mit der Verteilung der Bildungschancen zusammen.

Je schneller der Wandel, umso weniger wirken politische Instrumente, die lediglich die Folgen sozialer Ungleichheit abmildern, und umso mehr müssen wir uns auf die Instrumente konzentrieren, die die Ursachen sozialer Ungleichheit bekämpfen. Bildung spielt hier die zentrale Rolle.

Kinder aus wohlhabenderen Familien finden oft viele offene Türen für ein erfolgreiches Leben. Dagegen haben Kinder aus bildungsfernen Schichten meist nur eine einzige Chance im Leben: eine gute Schulbildung.

Die Weichen werden dabei früh gestellt. Kinder aus wohlhabenderen Familien finden oft viele offene Türen für ein erfolgreiches Leben. Dagegen haben Kinder aus bildungsfernen Schichten meist nur eine einzige Chance im Leben: eine gute Schulbildung, mit der sie die Möglichkeit erwerben, ihr Potenzial zu entfalten. Diejenigen, die dieses Boot verpassen, bekommen selten eine zweite Chance, da Bildungsmöglichkeiten im späteren Leben frühe Bildungsergebnisse meist noch verstärken. Das gilt nicht nur für Deutschland, aber besonders auch für Deutschland.

In den Jahren nach dem PISA-Schock 2001 hatte Deutschland zunächst viel erreicht. Die Erweiterung des Blickfeldes auf Alternativen in Bildungspolitik und -praxis durch PISA hat den Diskurs reicher und bunter gemacht. Der rege internationale Austausch zwischen Lehrkräften, Bildungsforschern und -politikern ist das vielleicht wichtigste Ergebnis von PISA. Was wussten wir vorher über das finnische oder kanadische Bildungssystem? Waren wir vor PISA bereit, über Alternativen zur Bildungspolitik und -praxis auch nur nachzudenken?

Reformdynamik gestoppt

Die Bedeutung guter frühkindlicher Förderung wurde schnell erkannt. Kindertagesstätten sind heute integraler Bestandteil des Bildungssystems. Auch die Notwendigkeit, verbindliche Maßstäbe für den Erfolg von Bildung zu schaffen, ist heute weitgehend Konsens. Insbesondere die sehr ungleiche Verteilung der Bildungschancen in Deutschland rief die Bildungspolitik auf den Plan. Zu den wichtigen Reformen, die daraufhin eingeleitet wurden, zählen kompetenzorientierte nationale Bildungsstandards, die Einführung der Ganztagsschule, bessere Diagnostik und Unterstützung sozial benachteiligter Gruppen sowie Reformen bei der Lehrerbildung. Im Ergebnis stand Deutschland bereits 2009 im internationalen Vergleich viel besser da. Insbesondere gelang es, die großen sozialen Unterschiede zu reduzieren. Auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund wiesen deutlich bessere Leistungen auf.

Allerdings kam diese Reformdynamik in den vergangenen zehn Jahren praktisch zum Erliegen. Seitdem sehen wir Rückschritte, nicht unbedingt, weil die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems abnimmt, aber weil das Bildungssystem in Deutschland sich den sich ändernden Rahmenbedingungen nicht schnell genug anpasst.

Unsere Gesellschaft verändert sich ständig, und in anderen Staaten schneiden Schülerinnen und Schüler mit ähnlicher Migrationsbiografie deutlich besser ab.

Vielleicht möchten Sie diesen Artikel gleich wieder weglegen und sich keine weiteren Gedanken zur Verbesserung des Bildungssystems machen. Weil Sie denken, etwas so Komplexes und mit Partikularinteressen Belastetes wie Bildung kann man nicht verändern. Dennoch bitte ich Sie, weiterzulesen. Warum? Weil die sozioökonomisch am schlechtesten gestellten 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler in vier chinesischen Provinzen mit einer doppelt so hohen Bevölkerungszahl wie Deutschland genauso gute Leistungswerte wie die Durchschnittsschüler in Deutschland erreichen. Weil viele Schulen in Deutschland auch in schwierigem Umfeld Spitzenleistungen erbringen. Und weil viele der leistungsfähigsten Bildungssysteme ihre Spitzenpositionen erst vor Kurzem erreicht haben.

Die Verantwortlichen für die schlechten Ergebnisse sind oft schnell ausgemacht: Es wird in aller Regel mit dem Finger auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gezeigt. Mit Empirie ist dies jedoch nicht belegbar. Fakt ist: Unsere Gesellschaft verändert sich ständig, und in anderen Staaten schneiden Schülerinnen und Schüler mit ähnlicher Migrationsbiografie deutlich besser ab. Guter Unterricht ist daher inklusiver Unterricht, der alle mitnimmt, und bei dem Lehrerinnen und Lehrer die außergewöhnlichen Fähigkeiten gewöhnlicher Schülerinnen und Schüler kennen und fördern.

Individualität als Bereicherung

Die Individualität jedes Einzelnen darf dabei nicht als eine Belastung, sondern muss als eine Bereicherung wahrgenommen werden. Schließlich haben alle Kinder und Jugendlichen das Recht auf gute Bildung und gleiche Chancen, um ihre individuellen Begabungen zu entfalten und ihren Beitrag zum friedlichen Zusammenleben in unserer vielfältigen Gesellschaft beizutragen. Vielfalt ist mancherorts eine Herausforderung, sie bietet aber Chancen und Potenziale. Heterogenität im Klassenzimmer ist die neue Normalität. Deshalb ist es umso wichtiger, alles vom Klassenzimmer über den Unterricht bis zur Ausbildung und Fortbildung des pädagogischen Personals auf den Umgang mit Vielfalt auszurichten.

Gut aus- und weitergebildetes Personal

Wir brauchen gut aus- und weitergebildetes Personal, Räume, in denen Schülerinnen und Schüler die für sie wichtigen Lern- und Lebenserfahrungen machen können, Rahmenlehrpläne, die sich auf das Wesentliche konzentrieren, eine rhythmisierte Schule im Ganztag – eine Schule, die vor allem inklusiv, demokratisch, gesund und bewegt ist.

Junge Menschen müssen sich in einer sich beständig verändernden Welt immer wieder neu positionieren, eigenständig und verantwortungsbewusst handeln, ihre eigenen Pläne und Projekte in größere Zusammenhänge stellen können. Und nicht zuletzt müssen junge Menschen in der Lage sein, gute und tragfähige Beziehungen aufzubauen, mit Konflikten umzugehen und diese zu lösen, sich in multikulturellen bzw. pluralistischen Gesellschaften konstruktiv einzubringen. Soziale Intelligenz, emotionale Sicherheit und Gründergeist sind dabei wichtige Dimensionen.

Das, was Kinder aus der Covid-19-Pandemie mitnahmen, war nicht die zusätzliche Hausaufgabe, sondern die Erinnerung an die Lehrkräfte, die in dieser schwierigen Zeit für sie da waren.

Das, was Kinder aus der Covid-19-Pandemie mitnahmen, war nicht die zusätzliche Hausaufgabe, sondern die Erinnerung an die Lehrkräfte, die in dieser schwierigen Zeit für sie da waren, die erkannt hatten, wer sie sind und wer sie sein wollen, und sie beim Erreichen ihrer Träume unterstützt haben. Die Zukunft braucht Lehrkräfte als Expertinnen und Experten, die Schülerinnen und Schüler begleiten und dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen.

Ebenso muss es gelingen, die besten Lehrkräfte für die schwierigsten Klassen und Schulen zu gewinnen, indem sie dort die besten Arbeitsbedingungen und die beste professionelle Unterstützung vorfinden. Wenn man die Karrieren nicht mehr nach dem Dienstalter, sondern an der Bewältigung sozialer Herausforderungen ausrichtet, hat man schon viel gewonnen.

Die Herausforderungen sind gewaltig, aber wir haben die Fähigkeit zu gestalten. Chancengerechte Bildung von hoher Qualität ist ein erreichbares Ziel.

Es geht dabei auch darum, bessere Wege zu finden, um Erfolge für größere Chancengerechtigkeit anzuerkennen, zu belohnen und sichtbar zu machen, sowie alles zu tun, was möglich ist, um Innovationsträgern die Übernahme von Risiken zu erleichtern und neuen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen.

Erfolgreiche Bildungssysteme bieten dazu Lernorganisationen, in denen Lehrkräfte voneinander und miteinander lernen, mit einem professionellen Management sowie einem Arbeitsumfeld, das sich durch mehr Differenzierung im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten und Entwicklungsperspektiven, die Stärkung der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern und mehr Verantwortung für Lernergebnisse auszeichnet.

Die Herausforderungen sind gewaltig, aber wir haben die Fähigkeit zu gestalten. Chancengerechte Bildung von hoher Qualität ist ein erreichbares Ziel. Durch ein modernes Bildungssystem ist es möglich, Millionen Lernenden eine Zukunft zu bieten, die heute keine haben. Die Aufgabe ist nicht, das Unmögliche möglich zu machen, sondern das Mögliche zu realisieren.