Rund 300 Vertreterinnen und Vertreter aus Regierungen, Unternehmen der Bildungsindustrie aber auch Nicht-Regierungsorganisationen und Verbänden diskutierten am 26. und 27. September 2016 auf dem zweiten "Global Education Industry Summit" in Jerusalem, Israel über das Spannungsverhältnis zwischen Bildungseinrichtungen, Informationstechnologien und Lehrkräften. Auch eine 12-köpfige Delegation der Bildungsinternationale (BI) war vor Ort.
Bildung für Innovation und Innovation in der Bildung
In der Bildung spielen digitale Medien eine immer wichtigere Rolle. Welche Herausforderungen von Bildungseinrichtungen und privaten Anbietern überwunden werden müssen, machte der „Global Education Industry Summit“ in Jerusalem zum Thema.
Die Ergebnisse der 2015 erschienenen OECD-Studie "Students, Computers and Learning" hatten zu Verunsicherung und Ernüchterung geführt. Die OECD-Studie gab Hinweise darauf, dass die Lernergebnisse umso schlechter werden, je intensiver Computer und Internet genutzt werden. Als Gründe dafür wurden fehlende notwendige Rahmenbedingungen wie die Entwicklung innovativer Lernkonzepte und Softwarelösungen sowie eine mangelnde Qualifizierung der Lehrkräfte angeführt. Das Rahmenthema des diesjährigen Gipfels wurde deshalb bewusst ausgeweitet auf "Bildung für Innovation und Innovation in der Bildung", welches aus vier verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wurde: "Lehrkräfte in der innovativen Welt", "Erziehung zu unternehmerischem Denken und Handeln – Startup-Nation in der Bildung", "Bildungstechnologie (Ed-Tech)", "Technologie in der Bildung als Hebel für Innovation".
Startup-Nation Israel
Israel als "Startup-Nation" mit mehr als 6.400 Startups, davon zahlreiche im Bildungsbereich, bildete den idealen Tagungsort. Als Gründe für die rasante Entwicklung des Landes von einer Agrar- zu einer Hi-Tech-Nation nannten Präsident Rivlin und Bildungsminister Bennett zur Eröffnung die traditionell hohe Wertschätzung von Lernen und Bildung. Israel beherberge ein weltweit einzigartiges "Ökosystem von formaler und informeller Bildung", so Rivlin. Lernende würden nicht nur intellektuell gefördert, sondern schon im frühen Alter mit realen Herausforderungen konfrontiert, bei deren Bewältigung soziale und emotionale Kompetenzen sowie kreative Problemlösungen und Führungsqualitäten gefordert seien. Es ginge darum, so Bildungsminister Bennett, "das Unmögliche zu tun" – Scheitern sei keine Option. Darüber hinaus verfüge Israel über eine Startup-Kultur im Bildungswesen, in der PädagogInnen, PolitikerInnenaber auch UnternehmerInnen bei der Entwicklung innovativer Lösungen zusammenarbeiteten.
Die israelischen PISA-Ergebnisse, die in allen Bereichen unter dem OECD-Durchschnitt liegen, zeigen allerdings auch eine Polarisierung entlang ethnischer und sozioökonomischer Spaltungen. Allein durch den Einsatz von Technologie werden diese nicht zu beseitigen sein. Stattdessen ist eine gezielte Politik der Inklusion erforderlich. Dennoch lassen sich aus der israelischen Innovationsstrategie Antworten auf die Frage ableiten, wie ein innovatives Bildungswesen gestaltet werden kann, in dem junge Menschen auf die digitalisierte Welt der Zukunft vorbereitet werden.
Es geht nicht nur um Wissensvermittlung
Im 21. Jahrhundert könne nicht mehr die Wissensvermittlung im Zentrum des Unterrichts stehen, da es für Lernende effizientere Wege der Informationsbeschaffung gebe, spitzte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher zu. Angesichts der radikalen technologischen, ökonomischen und sozialen Veränderungsprozesse könne heute ohnehin niemand sagen, welcher Wissenskanon in der digitalisierten Welt der Zukunft relevant sei. In Zukunft werde es darauf ankommen, so Schleicher, einen zuverlässigen Kompass zu entwickeln. Schleicher sieht dabei vor allem die Förderung von Fähigkeiten wie Kreativität, kritischem Denken, Problemlösungs- und Entscheidungskompetenz, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie Resilienz und Empathie als Aufgabe von Bildungseinrichtungen. Solche Kompetenzen könnten allerdings, so Schleicher, nicht das Ergebnis von Belehrung sein, sondern erforderten individualisierte Lernkonzepte und eine kompetente Lernbegleitung durch Lehrkräfte, die durch digitale Medien gestützt oder erst ermöglicht würden.
Die Computerwissenschaftlerin Daphne Koller erklärte gar, kostenlose Online-Kurse von den besten Universitäten der Welt garantierten das Menschenrecht auf Bildung und könnten zur Beseitigung des Lehrkräftemangels beitragen. Koller ist jedoch nicht nur Computerwissenschaftlerin, sondern Co-Gründerin des größten Anbieters von Massive Open Online Courses (MOOC) im Hochschulbereich, Coursea. Ihre These wurde insbesondere von GewerkschaftsvertreterInnen kritisch bewertet. Soziale Interaktion zwischen Lehrkräften und Lernenden sei unverzichtbar und könne nicht durch Technik ersetzt werden, betonten BildungsgewerkschafterInnen.
Deutlich wurde in den Debatten die Frage nach Lern- und Lehrkonzepte für den Einsatz digitaler Medien, aber auch nach konkretem Fortbildungsbedarf für die Lehrkräfte. Die Präsidentin von Teaching Partners, Vicki Phillips, betonte, Lehrkräfte seien ihrer Erfahrung nach hoch motiviert, sich an Innovationen durch digitale Medien gemeinsam mit der Industrie zu beteiligen, auch wenn dies eine neue Rolle für sie bedeute. Der Innovationswille würde jedoch häufig durch den bürokratischen Verwaltungsapparat gebremst, so Philipps. Wer bessere und vor allem innovativere Ergebnisse erzielen wolle, müsse die Lehrkräfte bei politischen Entscheidungen beteiligen, forderte auch der stellvertretende Generalsekretär der Bildungsinternationale David Edwards.
Startup-Kultur als Bildungsideal
Für eine solche Mitbestimmung der Lehrkräfte ist nach Ansicht von Saul Singer, Ko-Autor des Buches "Start-Up Nation", ein grundsätzlicher Bewusstseinswandel im Bildungswesen erforderlich. Aus Singers Sicht geht es um nicht weniger als eine Neuerfindung des Bildungswesens für das 21. Jahrhundert, die nur dadurch gefördert werden könne, wenn Projekt- und Kompetenzorientierung die Wissensorientierung ablösten. Da die Technologie integraler Bestandteil der realen Welt sei, müsse sie auch integraler Bestandteil der Bildung sein. Versuche, die Technologie mit dem alten System zu verknüpfen, könnten zu noch größeren Problemen führen, so Singer. Sein Vorschlag, die notwendigen Innovationen im Bildungswesen durch die Übernahme der Startup-Kultur herbeizuführen, löste erwartungsgemäß eine kontroverse Diskussion über die mit dem Abbau von Regulierungen verbundenen Risiken für Bildungsqualität und Chancengleichheit aus. Besonders der unter Start-Ups beliebte Ansatz des "Design-Thinking" wurde zum Gegenstand der Kritik. Design-Thinking bedeutet, nicht technisch perfekte, sondern an den Nutzerwünschen orientierte brauchbare Lösungen anzustreben, also noch währen des Prozesses aus Fehlern zu lernen. Aus der gesetzlich verankerten Schulpflicht folge aber gerade die Verpflichtung des Staates zu Regulierungen zum Schutz der schulpflichtigen jungen Menschen, entgegneten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Das "Testen neuer, möglicherweise unsicherer Produkte, um aus Fehlern zu lernen" sei unverantwortlich, weil damit die Zukunft der Kinder aufs Spiel gesetzt würde, so eine Diskutantin. Ein gewisses Maß an curricularer Autonomie sei zwar wünschenswert, aber auf Qualitätsstandards dürfe nicht verzichtet und Regulierung nicht pauschal als Hindernis für Innovation gesehen werden.
An der Debatte wird vor allem deutlich, dass eine Balance zu finden ebenso wichtig wie schwierig ist. Ergebnis: Die Gefahr, dass die bestehenden Bildungseinrichtungen durch disruptive Innovation von außen zerstört werden, wenn sie sich nicht selbst erneuern, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Einig war man sich darin, dass es Auftrag der Regierungen ist, ein Ökosystem zu schaffen, das die notwendigen Innovationen innerhalb der Bildungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit externen Partnern ermöglicht.