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Aufholbedarf beim Schutzkonzept

Zahlreiche Missbrauchsfälle zeigen, dass Schulen ihren Kinderschutzauftrag ernst nehmen müssen. Trotz Unterstützung durch die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ tun sie sich häufig schwer, eigene Konzepte zu entwickeln.

Foto: Pixabay - CC0

Der Alptraum endete, als das Kind sich einer Mitschülerin anvertraute: Der Stiefvater habe es sexuell missbraucht. Die Mitschülerin wandte sich an ihre Lehrerin, die sofort den Leiter einer Kieler Grundschule einschaltete. Es folgten ein Gespräch mit der Mutter und eine Anzeige bei der Polizei. Durch das „gute Vertrauensverhältnis“ und „Interventionsketten, die bereits bei Verdachtsfällen ausgelöst werden“, habe das Leiden des Kindes ein Ende gefunden, sagt der Schulleiter. Doch das ist keine Selbstverständlichkeit.

Auch acht Jahre nach Bekanntwerden der Missbrauchsskandale an der hessischen Odenwald-Schule und dem Berliner Canisius-Kolleg hängt es oft von einzelnen, aufmerksamen Lehrkräften ab, ob Fälle von sexueller Gewalt in Schule oder privatem Umfeld erkannt werden. Dabei sind die Zahlen alarmierend: Die Kriminalstatistik zählt jedes Jahr rund 12.000 Ermittlungs- und Strafverfahren allein bei Kindesmissbrauch, zudem 1.600 Fälle von sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Jugendlichen. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. „In jeder Schulklasse sind, statistisch gesehen, ein bis zwei Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erlitten haben oder aktuell erleiden“, sagt der Unabhängige Beauftrage für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Johannes-Wilhelm Rörig.

Er sieht Schule als den maßgeblichen Ort, um Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen – als potenziellen Tatort, aber auch als Schutzraum, an dem Betroffene Hilfe finden sollten. Deshalb hat er 2016 gemeinsam mit den 16 Kultusministerien, unterstützt von der GEW und weiteren Akteuren, die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ gestartet. Die rund 40.000 Schulen bundesweit sollen eigene Schutzkonzepte entwickeln und damit sicherstellen, dass „Mädchen und Jungen zum Thema aufgeklärt werden und bei sexuellen Übergriffen wissen, an wen sie sich wenden können und Schutz und Hilfe finden“. Auf ihrem Internetportal* bietet die Initiative Informationen und Hilfestellungen.

„Meist wachsen die Schulen erst auf, wenn ein Fall bekannt geworden ist.“ (Johannes-Wilhelm Rörig)

Doch die Zwischenbilanz ist ernüchternd. Bis Ende März hatte sich lediglich jedes zweite Bundesland der Initiative angeschlossen. Die anderen sollen bis Jahresende folgen. Mehr noch: Seit zwei Jahren stagniert die Zahl der Schulen, die ein Schutzkonzept entwickelt haben. Zu diesem Ergebnis kommt das Deutsche Jugendinstitut (DJI), das im Auftrag des Missbrauchsbeauftragten den Stand der Prävention sexualisierter Gewalt an Schulen untersucht hat. Bislang haben lediglich 13 Prozent ein umfassendes Schutzkonzept mit zentralen Bausteinen wie einer Potenzial- und Risikoanalyse, einem Verhaltenskodex, verpflichtenden Fortbildungen oder internen und externen Anlaufstellen. „Meist wachen die Schulen erst auf, wenn ein Fall bekannt geworden ist“, stellt Rörig fest.

Viele Schulen scheinen vor dem Arbeitsaufwand zurückzuschrecken. Deshalb empfiehlt das schleswig-holsteinische Bildungsministerium, bestehende Angebote in das bereits vorhandene Präventionskonzept, beispielsweise gegen Gewalt, zu integrieren. Unterstützung finden Schulen beim Zentrum für Prävention am landeseigenen Institut für Qualitätssicherung (IQSH) und bei Fachstellen wie Pro Familia oder dem Präventionsbüro PETZE. Diese informieren Kollegien im Rahmen von Schulentwicklungstagen und Fortbildungen zu Themen wie der psychosexuellen Entwicklung von Kindern oder Täterstrategien. Am sensibelsten sei die Risikoanalyse, bei der es „um Orte und Situationen im Raum Schule geht, in denen Personal und Schülerinnen und Schüler sich möglicherweise unwohl fühlen“, sagt die langjährige Leiterin des Präventions-Zentrums, Christa Wanzeck-Sielert. „Da höre ich häufig Fragen wie: Müssen wir nun überall eine Aufsicht hinstellen?“

Aktuelle Studien zeigen, dass ein gutes Schulklima entscheidend für den Erfolg von Präventionsmaßnahmen, oder eben eines Schutzkonzepts, ist.

Als „Kontroll- oder Angstkampagne“ könnten Lehrkräfte die Beschäftigung mit derart emotional besetzten Themen empfinden, sagt Uwe Sielert, Professor für Pädagogik an der Kieler Universität, und warnt: „Wenn der Schutzaspekt dominiert, kann dies zu Widerständen führen.“ Bei anderen würden möglicherweise „Gefühle wie Angst, Scham oder Wut geweckt“, wenn sie „eine Verunsicherung bei der Abgrenzung zu wünschenswerten professionellen Haltungen von Kontakt und Nähe“ spüren. Deshalb sei erforderlich, dass „die Schulleitung das Thema an sich nimmt und einen Prozess von Schutz und Befähigung aller Beteiligter in Gang setzt, der die Institution Schule als Ganzes bewegt“. Mit dem Ziel, Einstellungen und Verhalten zu verändern und eine positive Kommunikationskultur mit vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten zu entwickeln. Das könne ein langwieriger und tiefgreifender Prozess sein. Doch aktuelle Studien zeigen, dass ein gutes Schulklima entscheidend für den Erfolg von Präventionsmaßnahmen, oder eben eines Schutzkonzepts, ist.

Damit die Initiative endlich in den Schulen ankommt, fordert Rörig die Bundesländer auf, diese stärker in die Pflicht zu nehmen – aber nur „in Kombination mit intensiver fachlicher Begleitung und finanzieller Unterstützung“. In einem Modellprojekt solle die Bundesregierung ausgewählte Schulen bei der Entwicklung von Schutzkonzepten finanziell unterstützen – damit sie Fachdienste zu Rate ziehen können. Denn eine weitere zentrale Erkenntnis des Monitorings besagt, dass Schulen mit der Konzeptentwicklung nicht allein gelassen werden dürfen.