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Geschlechterreflektierte Pädagogik

Anerkennung auf Augenhöhe

Nach wie vor existieren Hierarchisierungen unter Jungen sowie zwischen Jungen und Mädchen. Das stellt eine geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen in der Pädagogik weiterhin vor große Herausforderungen.

Geschlechterreflektierte Pädagogik will hegemoniale Männlichkeit aufbrechen. (Foto: IMAGO/Blickwinkel)

Bereits unter Grundschülerinnen und -schülern kann ein spezifisches Interesse von Jungen an Computerspielen als männlicher Domäne beobachtet werden. So verhandeln Jungen im Sprechen über das Spiel Fortnite* im Morgenkreis „Zugehörigkeit, Gemeinschaft und ‚Coolness‘“, denn „Gewalterzählungen“ würden auch „der Darstellung der eigenen Furchtlosigkeit und Souveränität“ dienen (Dietrich/Budde, 2022).

Das Beispiel kann als Teil früher Subjektivierungsprozesse einer „young masculinity“ gedeutet werden, die nach einer Logik des ernsten Wettbewerbs „alle gegen alle“ und des Prinzips eines „the winner takes it all“ angelegt sind und bereits an eine wettbewerbszentrierte „kapitalistische Wachstumsmännlichkeit“ anknüpfen. Möglicherweise werden hier unter dem Vorzeichen gesellschaftlich umkämpfter Geschlechtervorstellungen Orientierungen an maskulistischen Vorstellungen angelegt, die mit einem Bild natürlicher Überlegenheit von Jungen und Männern gegenüber Mädchen und Frauen sowie nicht-binären, Trans- und Interpersonen und deren Abwertung einhergehen können, wenn auch nicht müssen.

Weiterhin pädagogische Anstrengungen erforderlich

Der geschlechterreflektierten Pädagogik geht es auf der einen Seite darum, die Dynamiken kindlicher und jugendlicher Subjektivierung zur Männlichkeit zu verstehen und die Bedürfnisse der Jungen darin zu erkennen. Zugleich ist mit ihr eine deutliche Grenzziehung gegenüber sexistischen, queer- und transfeindlichen Abwertungen und Diskriminierungen verbunden. Strukturell geht es um die Ermöglichung geschlechtervielfältiger Anerkennung auf Augenhöhe. Angesichts dessen, dass sich für „young masculinities“ eine Orientierung an hegemonialer Männlichkeit zwar abgeschwächt, eine Orientierung an vielfalts- und gleichstellungsorientierten sowie fürsorglichen Männlichkeiten aber noch nicht durchgesetzt hat, sind weiterhin pädagogische Anstrengungen in diese Richtung erforderlich.

In diesem Zusammenhang kann nicht oft genug wiederholt werden, dass nicht über die Jungen im Allgemeinen zu sprechen ist. Männlichkeitskonstruktionen sind immer kontextabhängig nach Alter, nach Schulform, Sozialraum, Klassenstufe oder Schulfach, zum Beispiel Sport oder Musik. Unter dem Vorzeichen der Veränderungen in Richtung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ist dies nochmals wichtiger zu betonen. Mittlerweile gibt es eben Erklärungsbedarf, wenn von Jungen und Männern die Rede ist. Was vormals eindeutig schien, sollte heute differenziert und erklärt werden. Dieser Anforderung sollte mit je altersangemessenen Formen der Vermittlung nachgekommen werden, um der zunehmenden Bedeutung der Selbstbestimmung in Prozessen geschlechtlicher Identifikation gerecht zu werden.

Moderne Konstruktionen

Im Vergleich zu früheren Studien zeigt sich in aktuellen Beobachtungen, dass pädagogische Fachkräfte versuchen, Geschlecht nicht zu stereotypisieren, Geschlechterungleichheiten auszugleichen und als Unterrichtsthema häufiger kritisch zu bearbeiten (Dietrich/Budde, 2022). Dies kann als Erfolg einer geschlechterreflektierten Perspektive in pädagogischen Aus- und Weiterbildungsformaten gedeutet werden. Angesichts gleichzeitiger transformativer und retardierter Geschlechterentwicklungen steht Pädagogik immer wieder vor der Herausforderung, auch transformierte Dominanzverhältnisse zu erkennen sowie Prozesse der Selbstbestimmung und ein Ringen um Geschlechtervielfalt und -gleichheit zu fördern.

Grundlegend braucht es dafür ein Wissen darüber, dass Männlichkeiten und Weiblichkeiten keine Frage der Natur sind, sondern moderne Konstruktionen im Rahmen einer Kultur der Zweigeschlechtlichkeit darstellen. Wichtig ist darüber hinaus ein Wissen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, in die gleichstellungsorientierte (junge) Männlichkeiten inkludiert sind. Genauso wichtig ist ein kritisches Wissen über zuweilen rechtsextrem, autoritär und fundamentalistisch gerahmte Geschlechtervorstellungen, die männliche Überlegenheitsansprüche und daraus resultierendes Anspruchsdenken wiederherzustellen versuchen, um diesen frühzeitig und klar zu begegnen.

Pädagogische Arbeit reflektieren

Eine daran anschließende Haltung schlägt sich zum Beispiel in der Analyse pädagogischer Handlungssituationen wie auch in den formulierten Bildungszielen nieder. Geschlechterreflektierte pädagogische Angebote zielen darauf ab, dass Strukturen und Normen der Anerkennung möglichst offengehalten werden, damit für Kinder und Jugendliche keine geschlechtliche Identifikation von vornherein ausgeschlossen wird. Damit sind eine Entlastung der geschlechterstereotypen Anforderungen, ein gleichberechtigtes Begegnen aller Geschlechter und ein deutliches Entgegentreten gegenüber diskriminierenden Handlungsmustern verbunden.

Eine zentrale Methodik für pädagogische Fachkräfte besteht weiterhin darin, sich selbst in Bezug auf die ganz persönlichen wie auch institutionellen Verstrickungen in Prozesse des Doing Gender zu reflektieren. So können Pädagoginnen und Pädagogen Veränderungen anstoßen, indem sie zum Beispiel auf implizite Zuschreibungen von Fähigkeiten, Vorlieben und Geschmäckern gegenüber Mädchen und Jungen verzichten und geschlechtliche Vielfalt im Unterricht thematisieren. In Aus- und Fortbildungen für (werdende) Lehrkräfte können exemplarische fachdidaktische Unterrichtsentwürfe erarbeitet werden, die daran orientiert sind, Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen nicht zu reproduzieren, sondern inklusive Formate für einen geschlechtervielfältigen und -inklusiven Unterricht zu fördern.

Nicht zuletzt müssen die individuellen und kollektiven Ressourcen zur Verfügung stehen, um die anspruchsvollen Aufgaben in den pädagogischen Alltag zu integrieren.  

*„Fortnite“ ist ein sogenanntes Koop-Survival-Shooter-Spiel, das heißt, es kann von mehreren Menschen gleichzeitig über das Internet gespielt werden. In dem Spiel kämpfen alle gegeneinander. Ziel ist es, zum Schluss der einzige Überlebende zu sein. Das Spiel ist in Deutschland ab einem Alter von zwölf Jahren freigegeben; Medienpädagoginnen und -pädagogen empfehlen allerdings ein Mindestalter von 14 Jahren.

Dietrich, Anette/Budde, Jürgen: „Ich geb nem Jungen nen Check und keine Umarmung“ – Zwischen Transformation und Tradierung von Männlichkeiten in der Schule. In: Budde, Jürgen; Rieske, Thomas Viola (Hrsg): Jungen in Bildungskontexten. Springer, Wiesbaden 2022