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Geschlechterreflektierte Pädagogik

Allmählich tut sich was

Wie kann man allen Kindern unabhängig von Geschlecht und sexueller Identität gleiche Entwicklungschancen bieten? Das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg unterstützt Lehrkräfte bei einer geschlechtersensiblen Haltung.

Beate Proll und Marcus Thieme gehören zum fünfköpfigen Fortbildungs- und Beratungsteam des Arbeitsbereichs Sexualität und Gender am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg. (Foto: Babette Brandenburg)

Ohrring, rote Sneaker und Anleiter für Kampfesspiele: Marcus Thieme, 51, hat sich der Stärkung von Jungen verschrieben. „Im Zuge der Emanzipation und der engagierten Bildungsarbeit, die sich daraus entwickelt hat, sind Jungen hintenübergefallen“, sagt der Lehrer an einer Stadtteilschule und Beauftragte für Jungenpädagogik am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg. Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen bei der Bezahlung oder beim Aufstieg in Führungspositionen noch immer offensichtlich. Deshalb plädiert Thieme dafür, Konzepte für Jungen- und Mädchenpädagogik zusammen zu denken. „Die Frage ist doch: Wie kann Schule unabhängig von Geschlecht und sexueller Identität allen Kindern gleiche Entwicklungschancen bieten?“

Thieme gehört zum fünfköpfigen Fortbildungs- und Beratungsteam des Arbeitsbereichs Sexualität und Gender am Landesinstitut. Mit dem Fortbildungsformat „Geschlechtergerechte Schule“ möchte das Team Lehrkräften und Schulkollegien Ideen und Anregungen mitgeben, um Jungen ebenso wie Mädchen in Schule zu stärken. Das klinge für einige Teilnehmende zunächst wie aus der Zeit gefallen, berichtet der langjährige Fortbildner, da selbst die öffentliche Debatte längst beim „dritten“ Geschlecht und der Dekonstruktion von Geschlecht angekommen sei.

„Mir geht es nicht um feste Rollenzuschreibungen, sondern um Eigenschaften, die eher bei Mädchen oder eben Jungen zu finden sind.“ (Marcus Thieme)

Doch ohne diese Kategorisierung ließen sich keine Angebote für die pädagogische Praxis entwickeln. „Mir geht es nicht um feste Rollenzuschreibungen, sondern um Eigenschaften, die eher bei Mädchen oder eben Jungen zu finden sind“, erläutert Thieme. Als Beispiel nennt er den offensichtlich größeren Bewegungsdrang vieler Jungen und empfiehlt Lehrkräften, Bewegungselemente in den Unterricht einzubauen. „Maßnahmen wie diese helfen auch Mädchen, sich besser zu konzentrieren.“

Der individuelle Mensch im Fokus

„Um Schule geschlechtergerecht zu gestalten, müssen wir den Einfluss der Rollen- und Geschlechterklischees hinterfragen und kritisch reflektieren“, sagt Beate Proll, Leiterin des Arbeitsbereichs Sexualität und Gender am Landesinstitut. In ihren Fortbildungen möchte sie den Teilnehmenden „einen geschlechtersensiblen Blick vermitteln“. Es gehe darum zu erkennen, „wo Geschlecht eine Rolle spielt und wie es abgebildet wird“. Wesentlich sei, die eigene Haltung zu reflektieren. „Wir müssen uns immer wieder hinterfragen, in welchen Situationen wir aufgrund unserer eigenen Sozialisation bewusst oder unbewusst Rollenzuschreibungen fortschreiben.“

„Viele Lehrkräfte kommen mit konkreten Beobachtungen oder Anliegen in die Veranstaltung, beispielsweise zur Leseförderung der Jungen.“ (Beate Proll)

Das Fortbildungsformat „Geschlechtergerechte Schule“ bietet Prolls Abteilung als offene Veranstaltung, aber auch im Rahmen von Ganztagskonferenzen für Schulen an. Dabei sind die Fragen und Bedarfe der Teilnehmenden höchst unterschiedlich. „Viele Lehrkräfte kommen mit konkreten Beobachtungen oder Anliegen in die Veranstaltung, beispielsweise zur Leseförderung der Jungen“, berichtet Proll. Bei einigen Lehrkräften registriere sie jedoch einen sehr defizitären Blick. „Diese nehmen die Schülerinnen und Schüler als sehr anstrengend wahr und haben den Eindruck, sie ständig disziplinarisch maßregeln müssen.“

Um diese Wahrnehmung zu „entdramatisieren“, setzt Thieme ein Rollenspiel ein, in dem er die Lehrkräfte auffordert, zwei verhaltensauffällige Jungen aus dem eigenen Schulalltag darzustellen. Im Spiel „passiert etwas in den Köpfen“, so der Fortbildner. „Die Teilnehmenden kommen in einen Reflexionsprozess über ihre Haltung zu diesen Jugendlichen.“ Wenn ein Schüler als Störer wahrgenommen werde, „dann habe ich nur die Mittel der Stigmatisierung und Sanktion“, so der Pädagoge. „Sehe ich ihn als eine ‚verhaltenskreative‘ Person, dann muss ich mir über die passenden pädagogischen Instrumente Gedanken machen.“

Ziel sei doch, das Geschlecht zu entdramatisieren, damit nicht die einengende Geschlechterrolle, sondern der individuelle Mensch in den Fokus rückt. Dafür vermittelt das Fortbildungsteam Wissen und bietet Tipps und Anregungen für die pädagogische Praxis. Die reichen von geschlechtergerechter Ansprache über die Auswahl diversitätsreflektierender Unterrichtsmaterialien und -methoden bis zur Zusammenarbeit mit den Eltern.

Auf dem Weg zur geschlechtergerechten Schule

Das Gymnasium Lerchenfeld in Hamburg hat sich auf den Weg zur geschlechtergerechten Schule gemacht. Vor zwei Jahren wurde ein Curriculum Sexualerziehung verabschiedet. Nun solle das Thema „jahrgangsübergreifend in den Schulunterricht eingebettet werden“, erläutert Cornelia Barnick, Abteilungsleiterin 7/8 und Mitglied der zuständigen Arbeitsgruppe. In einer Ganztagskonferenz haben Proll und ihr Team das Kollegium mit den dazugehörigen Themen vertraut gemacht. Mit Erfolg, meint Barnick. „Die Bereitschaft, daran weiterzuarbeiten, ist geweckt.“ So wolle eine Fachschaft neben anderen Maßnahmen die Diversität ihrer Literaturauswahl auf den Prüfstand stellen; es soll sich intensiver mit dem Thema Körperkult beschäftigt und eine Gruppe für LGBTQ-Personen gegründet werden. Unisex-Toiletten sind bereits, wie vom Schüler*innenrat gefordert, in Planung.

„Wir haben mittlerweile eine sehr diversitätssensible Schülerschaft.“ (Tanja Biller)

„Wir haben mittlerweile eine sehr diversitätssensible Schülerschaft“, erzählt Tanja Biller, ebenfalls Mitglied der Arbeitsgruppe. Entsprechend groß sei das Interesse der Kolleginnen und Kollegen am Workshop zur Vielfalt der geschlechtlichen Identitäten gewesen. Aus eigenem Erleben, so Biller, wisse sie, wie fehlende sprachliche Sensibilität auch unbeabsichtigt diskriminieren kann. Als sie in der Projektwoche Sexualaufklärung ihre Klasse in Mädchen- und Jungengruppen einteilen wollte, konnte sich ein Kind keiner Gruppe zuordnen und verließ weinend den Raum. „Es war furchtbar, ich konnte die Situation nicht mehr einfangen“, erinnert sich die Pädagogin. Sie habe das Kind erst kurz gekannt und sei wegen des Namens davon ausgegangen, dass es sich um ein Mädchen handele.

Die Fortbildung habe nochmals deutlich gemacht, wie wichtig es sei, „einen diversen Blick auf die Schülerschaft zu entwickeln“, bestätigt sie deshalb. Zudem bekamen die Lehrkräfte Hinweise auf diskriminierungsanfällige Situationen wie eben im Sexualkundeunterricht, bei der Zimmereinteilung auf Klassenfahrten oder beim Führen der Klassenlisten. „Wichtig ist, sich im Vorfeld Alternativen zu überlegen.“

Abkehr von stereotypen Rollenbildern

Ein allmähliches Aufweichen verkrusteter Vorstellungen scheint in Sicht. Immer mehr Jugendliche wehren sich gegen Zuschreibungen aufgrund ihres biologischen Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Darüber hinaus beobachten die beiden Lehrerinnen vermehrt die Abkehr von stereotypen Rollenbildern. „Natürlich sind, pauschal gesagt, noch viele Jungen am Pumpen und die Mädchen mit Abnehm- und Beauty-Tipps beschäftigt“, erzählt Barnick. Doch sie nimmt auch jene jungen Frauen wahr, die bewusst nicht den gängigen Schönheitsidealen nacheifern. „Diese sind selbstbewusst und weisen die Jungen bei Grenzüberschreitungen in die Schranken.“ Unter den Jungen bemerke sie leichte Veränderungen bei der Berufsorientierung. „Mittlerweile absolvieren sie ihre Praktika nicht mehr nur in den Männerdomänen, sondern auch in Kitas und der Altenpflege.“ Das könnte ein Anfang sein.