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75 Jahre GEW

„75 Jahre laut für Chancengleichheit!“

Was hat die Gewerkschaftspolitik geprägt, worum geht es heute? Interview mit der GEW-Vorsitzenden Maike Finnern, Eva-Maria Stange, Vorsitzende von 1997 bis 2005, und Rainer Dahlem, dem früheren Vorsitzenden der GEW Baden-Württemberg.

  • E&W: Die GEW hat gerade 75. Geburtstag gefeiert. Was war in diesen 75 Jahren für Sie die größte Veränderung?

Maike Finnern: Ganz klar: Der Wandel der GEW nach der Wende. Damals sind die Ostverbände unserer Organisation entstanden, damit haben sich unsere Aufgaben verändert. Die GEW wurde auch zur Tarifgewerkschaft.

Eva-Maria Stange: Ja, die GEW musste stärker als bisher Tarif- und Arbeitskämpfe führen, denn die neuen Mitglieder aus dem Osten waren angestellt. Für mich als Frau aus dem Osten war der Eintritt in die neu gegründete GEW Sachsen natürlich einschneidend. Die GEW hat eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der gewaltigen Umwälzungen des Bildungssystems im Osten gespielt. Alles war plötzlich neu, funktionierte anders – von den Kitas über die Schulen bis zu den Universitäten.

  • E&W: Herr Dahlem, Sie blicken noch weiter zurück: 1969 GEW-Mitglied, 1976 Kreisvorsitzender, 1991 bis 2008 Landesvorsitzender der GEW Baden-Württemberg. Was war für Sie prägend?

Rainer Dahlem: Nach dem Krieg waren wir die einzige Gewerkschaft, die alle Schularten vertrat. Von der Grundschule über Sonderschulen und Gymnasien bis zu beruflichen Schulen. Alle Lehrerverbände konzentrierten sich auf eine Schulform. Wir funktionierten eher wie die IG Metall. Ein Betrieb, eine Gewerkschaft für alle. Und unser Betrieb war, wenn man so will, halt der Schulbetrieb. Lehrkräfte sind Lehrkräfte, egal wo. Das war unser Slogan. Deshalb habe ich mich für die GEW entschieden. Aber es war nicht immer einfach.

  • E&W: Inwiefern?

Dahlem: Wir mussten stets das gesamte Schulsystem und alle Berufsgruppen im Blick haben. Arbeitszeiten, Status, Ausbildung, Bezahlung, Aufstiegsmöglichkeiten. Der Philologenverband dagegen konnte einfach mehr Geld nur für Gymnasiallehrer fordern ...

Finnern: … und lehnt bis heute A13 für alle Lehrkräfte ab. Bei uns aber ist das Beschlusslage. Trotzdem gibt es auch in der GEW Mitglieder, die zu mir sagen: Wenn die Grundschullehrkräfte A13 bekommen, brauchen wir aber A14.

  • E&W: War das Selbstverständnis als Gewerkschaft für alle damals umstritten?

Dahlem: Andere Verbände verspotteten uns als Gemischtwarenladen. Innerhalb der GEW waren wir uns einig.

Stange: Da muss ich widersprechen. Als ich Anfang der 1990er-Jahre zur GEW kam, war ich erstaunt bis entsetzt, wie präsent die alten Partikularinteressen in der GEW waren. Das spiegelte sich etwa in Arbeitsgruppen. Als dann die Erzieherinnen aus dem Osten sagten, wir wollen genauso beachtet werden wie die Gymnasiallehrkräfte, wurden die Gräben noch tiefer.

Finnern: Die GEW bewegt sich da in einem Spannungsfeld. Wir müssen immer wieder schauen: Wo können wir uns gegenüber den Berufsverbänden abgrenzen, wo müssen wir Zugeständnisse machen?

  • E&W: Die 1960er- und -70er-Jahre waren Zeit des Aufbruchs, einer neuen Kultur, der Bildungsexpansion. Wie war das in der GEW spürbar?

Dahlem: Es wurde unglaublich viel in Bildung investiert. Die Zahl der Lehramtsstudierenden explodierte, vor allem an den Pädagogischen Hochschulen. Wenig später kamen diese jungen Lehrkräfte an die Schulen. Die GEW gewann in nahezu dramatischem Umfang neue Mitglieder hinzu.

  • E&W: Gab es Konflikte zwischen den Generationen?

Dahlem: Oh ja. Da die Alten aus den traditionellen Lehrervereinen, hier die Jungen frisch von der Hochschule. Wir haben die GEW aufgemischt. Als ich 1976 zum Kreisvorstand gewählt wurde, liefen am nächsten Tag die Telefone heiß: ein Berufsschullehrer, im Ernst? Das hatte es noch nie gegeben. Wir drängten nach bildungs- und schulpolitischen Veränderungen. Wir wollten das gegliederte Schulsystem überwinden, eine Schule für alle Kinder schaffen, Gesamtschulen etablieren. Das hat uns stark gemacht, aber auch den Verhinderern in den standespolitischen Verbänden Rückenwind gegeben.

  • E&W: Die Studentenbewegung hat 1968 den Umgang mit dem Erbe der NS-Zeit und personeller Kontinuität auf die Tagesordnung gesetzt. Für die GEW war das damals kein Thema. Vor knapp zehn Jahren hat sie aber bei den Leipziger Historikern Jörn-Michael Goll und Prof. Detlev Brunner die Aufarbeitung der Geschichte der GEW mit Blick auf die NS-Zeit in Auftrag gegeben, 2021 wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Warum nicht früher?

Finnern:  Weil wir heute den notwendigen Abstand haben und sich die Gesellschaft immer mehr bewusst wird, wie wichtig solche Auseinandersetzungen sind. Ich halte das für absolut richtig. Genauso hat der Gewerkschaftstag 2021 beschlossen, in den nächsten Jahren die Max-Traeger-Stiftung umzubenennen, nachdem es eine Diskussion über Traeger, den ersten Vorsitzenden der GEW, und seine Rolle in der NS-Zeit gegeben hatte. Aktuell haben wir ein wissenschaftliches Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der GEW in Auftrag gegeben.

  • E&W: Frau Stange, die frühen 1990er-Jahre waren eine große Zäsur für die GEW. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Stange: Es war ungeheuer wichtig, dass die GEW nicht einfach Mitglieder des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) übernommen hat. Die Landesverbände der GEW im Gebiet der ehemaligen DDR wurden neu gegründet. Das hat uns Selbstbewusstsein gegeben, die GEW zu unserer Sache gemacht. Es ging von Anfang an vorrangig um existenzielle Fragen. Tausende Beschäftigte wurden entlassen. Besonders schlimm war es in den Kitas und an den Hochschulen. Ganze Einrichtungen wurden abgewickelt. An Kitas haben wir mit Teilzeitvereinbarungen viel retten können. Mit dem drastischen Rückgang der Schülerzahlen spitzte sich die Lage auch an den Schulen zu. Die Hälfte der Lehrerstellen sollte abgebaut werden. Wir mussten kämpfen und verhandeln, um Tausende Arbeitsplätze zu retten.

  • E&W: Haben Sie sich in dieser Zeit von den Westverbänden der GEW ausreichend unterstützt gefühlt?

Stange: Am Anfang gab es ehrenamtlich Hilfe beim Aufbau der Organisation. Wir hätten uns mehr Empathie gewünscht für die Arbeitskämpfe des Ostens.

Dahlem: Ja, da hätten wir mehr unterstützen können.

Stange: Sehr geschätzt aber wurde die Haltung der GEW zur politischen Aufarbeitung. Zum Beispiel wurden in Sachsen ehemalige Schulleitungen auf einer „schwarzen Liste“ geführt; sie galten per se als politisch verdächtig. Das war eine schlimme Vorverurteilung und entsprach nicht dem Einigungsvertrag. In Anhörungen mussten sie sich rechtfertigen. Die GEW-Personalräte haben sich gegen die pauschale Verurteilung gewehrt und jeden einzelnen Fall genau geprüft.

  • E&W: 1997 übernahmen Sie den GEW-Vorsitz, als erste Frau und als erste Person aus dem Osten. In Ihre Zeit fiel der Sondergewerkschaftstag 1999, auf dem der -Beschluss gefällt wurde, die GEW zu einer Bildungsgewerkschaft zu entwickeln.

Stange: 2001 wurde ver.di gegründet. Zwei Jahre zuvor hatte die GEW entschieden, nicht beizutreten. Wir wollten zu einer eigenen Gewerkschaft für alle Beschäftigten in der Bildung werden, für Angestellte ebenso wie für Beamtinnen und Beamte. Von den Kitas über die Hochschulen bis zur Weiterbildung. Bis dahin waren Kita-Mitarbeitende meist in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), in den Hochschulen organisierten sich Beschäftigte teilweise in Fachgewerkschaften. Es gab großen Druck in der GEW, den anderen Bildungsbereichen genauso große Aufmerksamkeit zu schenken wie dem schulischen. Wir haben begonnen, eine tariffähige Bildungsgewerkschaft aufzubauen, die streikt, Demonstrationen organisiert, Geld dafür bereitstellt. So konnten wir auch die Angestellten besser vertreten.

Finnern: Der Name Bildungsgewerkschaft prägt uns bis heute. In den vergangenen Jahren haben wir unsere Aktivitäten im Tarifbereich ausgebaut. Seit rund 15 Jahren kämpft die GEW vor Gericht für das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte. Aktuell beschäftigt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit unserer Klage. Wir erwarten demnächst das Urteil.

  • E&W: Was hat die GEW als Bildungsgewerkschaft in den vergangenen 25 Jahren erreicht?

Finnern: Zu unseren großen Erfolgen gehört der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule. Wir haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass sich die gesellschaftliche Debatte darüber geändert hat. Auch, dass wir in zwölf Bundesländern A13 für alle Lehrkräfte durchgesetzt haben, macht uns stolz.

Stange: Und wir haben die frühkindliche Bildung entscheidend vorangebracht. Es gibt einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem ersten Lebensjahr, in manchen Bundesländern ist dieser sogar kostenfrei. Vor allem die GEW Ost hat dafür gekämpft, denn hier gab es die ganztägigen Kitas schon vor 1990 und wir haben sie uns nicht nehmen lassen. Wie wichtig frühkindliche Bildung ist, haben inzwischen zum Glück alle verstanden. Nicht nur, weil ganztägige gute Kita-Plätze Eltern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Sondern vor allem, weil sie allen Kindern eine faire Startchance geben. Eine Erzieherin hat mehr Einfluss auf den Bildungsweg eines Kindes als jede Gymnasiallehrkraft. Kitas haben heute einen klaren Bildungsauftrag. Die GEW hat diese Entwicklung wesentlich vorangetrieben. Wir haben uns auch erfolgreich für die soziale Arbeit in den Schulen eingesetzt. Die meisten Schulen haben heute Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter.

  • E&W: Herr Dahlem, Sie standen lange Zeit an der Spitze der GEW in Baden-Württemberg. Im Rückblick auf diese lange Zeit, was macht für Sie die GEW aus?

Dahlem: Das Markenzeichen der GEW ist für mich ein Zweiklang: Einerseits kümmern wir uns um die Bezahlung, die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen. Andererseits gestalten wir Reformen des Bildungssystems inhaltlich mit. Ohne uns würde das Bildungssystem sicher anders aussehen. Aber die Reformunfähigkeit der Politik heute macht mich trübsinnig. Seit fast 15 Jahren hat Baden-Württemberg einen grünen Ministerpräsidenten …

  • E&W: … Winfried Kretschmann, einen ehemaligen -Lehrer, der seit 50 Jahren Mitglied der GEW ist.

Dahlem: Genau. Ist Schule unter einer grün geführten Landesregierung gerechter geworden, gibt es mehr Chancengleichheit? Nein. Es wird weiterhin die GEW brauchen, damit Reformen endlich mal in Gang kommen.

Stange: Das gegliederte Schulsystem wird wie eine Monstranz vor uns hergeschoben. Deutschland schafft es nicht mal in Krisensituationen wie jetzt, daran etwas zu ändern. Der Lehrkräftebedarf ist extrem, wir wurschteln uns mit Seiteneinsteigern – meist ohne pädagogische Ausbildung – durch. Kinder müssen lernen, mit neuen Situationen umzugehen, um sich später in wechselnde Berufsfelder einarbeiten zu können. Wir müssen Empathie schulen, sie ist unverzichtbar in Dienstleistungsberufen, die immer wichtiger werden. Die Inklusion, das gemeinsame Lernen aller Kinder, muss vorangetrieben werden. Einiges ist erreicht, jetzt heißt es: dranbleiben!

  • E&W: Frau Finnern, was sind die wichtigsten inhaltlichen Themen für die nächsten Jahre?

Finnern: Mehr Chancengleichheit und bessere Bildungs-finanzierung. Das Bildungssystem steckt in einer multi-plen Krise. Es gibt derzeit so wenig Chancengleichheit wie noch nie, die Ungleichheit wächst, das bestätigen alle Studien. Fachkräftemangel, Corona, die drastische Unterfinanzierung der Bildung verschärfen diese Ungleichheit dramatisch. Das beschäftigt uns existenziell. Schulen in schwierigen Lagen haben oft schlechtere Gebäude, bekommen schwerer Lehrkräfte, haben mehr unter der Pandemie gelitten. Wir müssen endlich Ungleiches ungleich behandeln …

  • E&W: … also benachteiligte Schulen finanziell viel besser unterstützen als andere …

Finnern: … unbedingt. Immerhin: Ungleiches ungleich behandeln – die Botschaft ist angekommen. Das zeigt sich auf Bundesebene in allen Debatten über Bildungsfinanzierung. Das ist ein Erfolg der GEW. Wir können uns ein unterfinanziertes Bildungssystem nicht mehr leisten. Überall prallt die Unterfinanzierung auf den riesigen Fachkräftemangel in Kitas und Schulen. Auf dem Bildungsgipfel 2008 wurde beschlossen, 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung auszugeben – bislang hat Deutschland dieses Ziel nicht erreicht. Es ist Zeit, das zu ändern.