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Keine Demokratie ohne Demokratiebildung

Wir alle tragen Verantwortung

Mitbestimmung und Partizipation können früh geübt werden, wenn Eltern in den Prozess des Demokratielernens einbezogen werden. Das bietet das Modell der Elternbildung des Berliner Senats, das auf eine Vernetzung von Familienzentren und Kitas setzt.

Im Familienzentrum des Vereins Sehstern in Berlin-Buch: v.l.n.r.: Latifa, Lisa, Lyes, Laura, Aileen, Daniela / Foto: Kay Herschelmann

Es ist 10 Uhr, und die Brötchen stehen schon bereit. Kaffeeduft zieht durch die helle Sitzecke des Familienzentrums. Käse, Wurst und Marmelade liegen neben buntem Geschirr auf dem Sofatisch. Latifa und Lisa spielen am Kaufmannsladen, der zwölf Monate alte Lyes hangelt sich Gurke knabbernd am Tisch entlang. Auf der Couch haben es sich Laura und Daniela gemütlich gemacht, gegenüber wippt Aileen auf einem Kinderstuhl. Die drei kommen häufig mit ihren Kindern hierher.

Laura sogar fünfmal in der Woche. Zum Frühstück, zum Kinderyoga, zum Kurs „Mentale Wellness“ oder einfach zum Plaudern. „Die Kleinen müssen doch mal rauskommen, und für mich ist es einfach wundervoll, andere Eltern zu treffen.“ Zum Beispiel Daniela, die den „geschützten Raum und die Stabilität“ schätzt. Oder Aileen, die möchte, „dass Lisa vor der Kita mit anderen Kindern in Kontakt kommt“. Aber das Beste ist, sagen alle: Dies hier ist unser Raum, wir gestalten ihn mit. Laura: „Wir alle tragen doch Verantwortung.“ 

„Mit Familienzentren in jedem Bezirk wollen wir Eltern stärken, vernetzen und ihre Erziehungsfähigkeit fördern.“ (Kristin Bliß)

Ein frühsommerlicher Freitag im Bürgerhaus Berlin-Buch. Der gelbe Flachbau am nord-östlichen Rand der Stadt leuchtet in der Morgensonne. Im Bucher Bürgerhaus sind viele Einrichtungen der Stadtteilarbeit versammelt, von der Frauenberatung Beruf und Tat über die neue Nachbarschaft Berlin bis zum Familienzentrum im ersten Stock. Schon 2012 eröffnete hier der kleine Familientreff des Vereins Sehstern, seit 2016 ist er Teil des Senatsprogramms Familienzentren. Das Ziel: „Mit Familienzentren in jedem Bezirk wollen wir Eltern stärken, vernetzen und ihre Erziehungsfähigkeit fördern“, sagt Kristin Bliß, Projektkoordinatorin der Servicestelle Berliner Familienzentren. 42 gibt es heute, organisiert werden sie von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die mit Kindergärten kooperieren oder den Kitas selbst.

Das Familienzentrum Sehstern arbeitet mit der Kita „Schlaufüchse“ um die Ecke zusammen, von gemeinsamen Festen bis zu sozialer und psychologischer Beratung. Die -Familienzentren sind nicht etwa ein weiteres Projekt im Quartier. Sie sollen Lücken füllen, gezielt die Bedürfnisse von Eltern mit Kindern von null bis sechs Jahren aufgreifen und zur Teilhabe ermuntern. Bliß: „Die Familienzentren sollen für Eltern ‚ihr Ort‘ sein, an dem sie spüren: Wir werden gesehen. Wir können mitgestalten.“

Als die Familientherapeutin Beate Wirsig die Koordination des Familienzentrums Buch übernahm, hat sie daher als erstes die Eltern nach ihren Wünschen gefragt. „Was wollt ihr? Wir versuchen, es möglich zu machen, organisieren Raum, Fachkraft, Materialien, Kooperationspartner.“ 73.000 Euro bekommt jedes Familienzentrum jährlich, davon wird das Gehalt der Leitung bezahlt, für Honorarkräfte und Sachmittel bleibt dann nicht viel Geld übrig.

Es beeindruckt Wirsig heute noch, wie sehr die Eltern den Ball aufnahmen. Ein Vater, von Beruf Erlebnispädagoge, initiierte Parkerkundungen mit Pflanzenbestimmung für Eltern und Kinder. In Kooperation mit der Stiftung Naturschutz machte es Wirsig möglich. Eine wöchentliche Vätergruppe kam auf Elterninitiative zustande. Eine Mutter brachte ein Musikangebot auf den Weg, andere Do-it-Yourself-Workshops mit Papierperlen, Aquarellen oder Nähmaschine. Auf Elternwunsch entstanden Kinderyoga, Kochkurs und Mental-Wellness. Entscheidend: Die Ideen verlaufen nicht im Sande, sondern werden ernst genommen und mit Wirsigs Hilfe tatsächlich realisiert. Von Anfang an war Regel bei allen Aktionen: Jeder trägt etwas bei – wie am Morgen beim Frühstück. Wirsig: „Anfangs hat es viele überrascht, manchmal irritiert. Heute ist es selbstverständlich.“ So fange Partizipation an. „Beiläufig“, nennt Wirsig das.

„Und wenn ich merke, dass die Eltern Themen umtreiben, greife ich sie auf.“ (Beate Wirsig)

Nach Einschätzung von Bliß funktioniert dieser Ansatz bei vielen Familienzentren in der Stadt. „Meist startet es mit runden Tischen oder Elternumfragen, dann kommt etwas in Bewegung“, so die Projektkoordinatorin. Vertrauen entsteht und die Lust, mitzumachen. Therapeutin Wirsig war sofort klar: Die Menschen in Buch wollen eines nicht: belehrt werden, das Gefühl haben, hier kommt der pädagogische Zeigefinger. Die Sensibilität gegenüber staatlicher Intervention ist groß, die DDR-Erfahrungen der eigenen Eltern wirken nach, das Jugendamt hat einen schlechten Ruf im Kiez, in dem der Anteil von Familien mit Problemen hoch ist.

Umso schöner ist für Wirsig zu sehen, wenn sich die vorsichtige, offene Vertrauensarbeit lohnt. Und die Besucher selbst einfordern: Ja, wir wollen Gespräche – auch über Dinge, die uns im Alltag belasten. Traumreisen und Atemübungen für den Alltag haben Laura gut getan. Gespräche mit Profi Wirsig über ihre Ängste vor dem Wiedereinstieg in den Job haben Daniela Kraft gegeben. „Und wenn ich merke, dass die Eltern Themen umtreiben, greife ich sie auf.“ Mal sind es Debatten über den Umgang mit Geschwisterkindern, mal Diskussionen über Rollenverteilungen in der Familie.

Auf Nachfrage kommt sofort eine Diskussion über Partizipation in der Familie in Gang. Wie viel dürfen Kinder mitent-scheiden? Ab wann kann man sie beteiligen? Für die Kinder gibt es eine kleine Box, in die sie Nachrichten an die Eltern stecken können: „Darüber möchte ich mal mit euch reden.“ Alle in der morgendlichen Runde sind dafür, Entscheidungen im Alltag mit Kindern auszuhandeln. Wirsig fällt ein Beispiel ein: „Wisst ihr noch, als der kleine Theo neulich nicht mit seiner Mutter zur Musikgruppe gehen, sondern weiterspielen wollte? Hättet ihr ihn entscheiden lassen oder euch durchgesetzt?“ 

Mitbestimmung üben

Über Partizipation diskutieren, Mitbestimmung üben – für Kerstin Volgmann sollte das viel häufiger in pädagogischen Einrichtungen thematisiert werden. Die Sozialpädagogin beschäftigt sich seit Jahren mit Mitbestimmung und Demokratieerziehung, gibt Fortbildungen für Erzieher und Pädagogen. Immer wieder beobachtet sie, dass Erzieher unterschätzen, wie wichtig die explizite Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Nicht selten winkten sie ab. Kinderrechte? Ja, klar, weiß ich doch. „Aber es ist wichtig, dass wir uns damit auseinandersetzen, was genau das heißt“, sagt Volgmann. Nehmen wir die Bedürfnisse eines Kindes wirklich wahr? Respektieren wir es von Anfang an als vollwertigen Menschen, dem man nicht von oben herab über den Kopf streicht?

Aus Volgmanns Sicht ist eine explizite, professionell angeleitete Debatte über die Grundlagen des Miteinanders unerlässlich. Welche Bedeutung hat Freiheit für jeden einzelnen? Was heißt Würde eigentlich? Welche Werte sind mir wichtig? Bei Fortbildungen bringt Volgmann so eine Diskussion gerne spielerisch ins Rollen. Zum Beispiel mit dem Spiel „Wertekauf“. Wie auf einem Basar werden Dutzende Werte feilgeboten, jeder darf sich drei aussuchen – und muss anschließend begründen, warum er oder sie diese gewählt hat. Volgmann: „Bei Fortbildungen in Kitas entstehen dann oft zwei Gruppen – eher die Gemeinschaftsbezogenen, eher die Autonomieorientierten.“

Der Frühstücksmorgen im Familienzentrum neigt sich dem Ende zu. Laura, Daniela und Aileen packen ihre Sachen. Wirsig plant für die Zeit nach der Sommerpause eine kleine Ausstellung. Dann wird das Thema Kinderrechte explizit diskutiert. Gestern erst hat sie eine kleine Ideen-Box gebastelt, einen Aufruf zur Mitbestimmung: „Kids, was sollten wir hier als nächstes machen?“ Der erste Wunsch liegt schon im Kasten: „Ich würde gerne einen Familienzentrumsbaum basteln.“