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Senior*innenpolitische Fachtagung

„Vielleicht ist 70 bald das neue 30“

Senior*innen übernehmen heute einen Großteil der Freiwilligenarbeit. Wo ist das eine sinnvolle Ergänzung zum Wohlfahrtsstaat, wo ein gefährliches Abwälzen staatlicher Basisaufgaben? Darüber wurde auf einer GEW-Fachtagung diskutiert.

„Wenn nur zehn Prozent der pflegenden Angehörigen plötzlich sagen würden, es geht nicht mehr, würde das deutsche Pflegesystem innerhalb von Sekunden kollabieren“ – mit diesem Satz brachte der Koblenzer Sozialforscher Stefan Sell bei der 7. Senior*innenpolitischen Fachtagung der GEW Anfang Juli in Bonn auf den Punkt, wie wichtig Freiwilligenarbeit für die Gesellschaft ist.

„Trotzdem gehen wir so schamlos schlecht mit der Ressource pflegende Angehörige um, die letztlich nichts anders als Freiwilligenarbeit machen.“ (Stefan Sell)

84 Prozent der fünf Millionen Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. „Trotzdem gehen wir so schamlos schlecht mit der Ressource pflegende Angehörige um, die letztlich nichts anders als Freiwilligenarbeit machen.“ Nutzt der Wohlfahrtsstaat das Ehrenamt als Sparmodell, um sich ungeliebter Aufgaben zu entledigen oder kann Freiwilligenarbeit eine sinnvolle Ergänzung zu wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen sein? Sell: „Es gibt kein Schwarz oder Weiß, Freiwilligenarbeit und Wohlfahrtsstaat stehen in einem Spannungsverhältnis, das wir immer wieder neu aushandeln müssen“.

Engagement der Älteren nimmt zu

Es ist kein Zufall, dass bei der Suche nach einer zeitgemäßen Politik für Ältere das Thema Freiwilligenarbeit eine wichtige Rolle spielt. Mehr Ältere denn je engagieren sich ehrenamtlich, in traditionellen Vereinen ebenso wie in Projekten oder in der Gewerkschaftsarbeit.

„Was ist die Rolle der Senior*innen in der GEW? Wie schaffen wir es für die Jüngeren, Professionspolitik zu machen und für die Älteren einen Altersphasenpolitik?“, fragte Frauke Gützkow, im GEW-Vorstand zuständig für Senior*innenpolitik, daher zum Auftakt der Debatte bei der Fachtagung zum Thema „Alterspolitik und soziale Verantwortung“.

„Wir brauchen eine Senior*innenpolitik, die auf respektvoller Solidarität zwischen den Generationen fußt (...)“(Frauke Gützkow)

120 Teilnehmer*innen waren gekommen, gefördert wurde die Tagung vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ). „Alt werden ist vielfältig, geprägt von Lebenssituation, Biographie, Geschlecht und Herkunft. Wir brauchen eine Senior*innenpolitik, die auf respektvoller Solidarität zwischen den Generationen fußt und Älteren Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglicht“, sagte Gützkow.

„Sie setzen auf den Einsatz von Frauen“

Wie sehr viele Länder mit unterschiedlichen Systemen bei der Versorgung Älterer auf Freiwilligenarbeit setzen, machte Hildegard Theobald deutlich, Professorin für Gerontologie an der Universität Vechta. Sie verglich Deutschland, Japan und Schweden. Während Deutschland mit der Pflegeversicherung die Pflege in der Familie unterstützt und mit niedrig bezahlter Freiwilligenarbeit ergänzt, in Japan gering entlohnte Freiwilligenarbeit in Nachbarschaften den Abbau staatlicher Pflege abfedern soll, ist in Schweden Pflege reine Sozialstaatsaufgabe, ergänzt durch unbezahltes Bürgerengagement, das klar getrennt ist von Erwerbsarbeit.

„Das ist ein gesellschaftlicher Missstand, den wir dringend bekämpfen müssen.“ (Frauke Gützkow)

Doch eines ist allen gemeinsam: „Sie setzen auf den Einsatz von Frauen“, kritisierte Gützkow. „Das ist ein gesellschaftlicher Missstand, den wir dringend bekämpfen müssen.“ Dabei gelte es, sich Freiwilligenarbeit in jedem Sektor getrennt anzuschauen, ergänzte Altersforscherin Theobald: „Geht sie etwa auf Kosten von Professionalisierung und schafft prekäre Beschäftigung für Engagierte, die sich finanziell nicht selbst versorgen können, oder ist sie eine freiwillige Aufgabe für finanziell unabhängige Personen?“

Senior*innenpolitik in allen Lebensbereichen

Und wie ist es um eine zeitgemäße Senior*innenpolitik in Kommunen und Land bestellt? Klaus Beck, Bundessenior*innenbeauftragter des DGB, kritisierte, dass sie auf der politischen Agenda immer noch keine große Rolle spiele. Gerade mal acht Zeilen habe die Ampelkoalition dem Thema eingeräumt.

Auch in der Debatte über das allgemeine Gleichstellungsgesetz finde das Thema Altersdiskriminierung nicht statt. „Politiker*innen halten es für Senior*innenpolitik, wenn sie etwas für Pflege und Rente tun“, so Beck. „Dabei muss sie Querschnittspolitik sein, die sich durch alle Lebensbereiche zieht.“ Dafür sorgt, dass Ältere gesund wohnen, dass sie kulturell mitmischen und mobil bleiben können. Senior*innenfreundliche Querschnittpolitik komme meist allen zugute.

Ältere sollen lauter werden

Von der Absenkung von Bordsteinen in einem Quartier haben Eltern mit Kinderwagen genauso viel wie Senior*innen mit Rollator. Beck: „Damit die Anliegen Älterer gehört werden, brauchen wir endlich flächendeckend Senior*innenmitwirkungsgesetze.“ Auch Regina Görner, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), ermunterte Ältere, lauter zu werden. Denn obwohl die Gruppe der Senior*innen größer und vielfältiger ist denn je, machten sie meist dieselbe Erfahrung: „Raus aus dem Erwerbsleben, heißt raus aus allem. Das gilt sogar fürs Ehrenamt.“ Viele Organisationen suchten vor allem 30- bis 35-jährige, beobachtet Görner, Ältere werden oft weggeschickt. „Aber das sind Menschen mit reichem Erfahrungsschatz und viel Zeit. Wir sollten uns für ein Umdenken einsetzen – dann ist vielleicht bald 70 das neue 35.“