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„Wirtschaftsmärchen“

Umverteilung zugunsten der Profite

Neoliberale Mythen über Wirtschaft, Arbeit und Sozialstaat dominieren seit Jahren den politischen und medialen Diskurs. Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf haben sich in „Wirtschaftsmärchen“ kritisch mit diesen Narrativen auseinandergesetzt.

Dauerhafte Exportüberschüsse (und die daraus resultierende Verschuldung) destabilisieren die Weltwirtschaft und die globalen Handelsbeziehungen. (Foto: Pixabay / CC0)

E&W veröffentlicht in einer vierteiligen Serie ausgewählte Kapitel. Zum Start: „Exportüberschüsse sind das Ergebnis guter Wirtschaftspolitik!“

Es war einmal ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat, der im Wahlkampf die soziale Gerechtigkeit zu seiner Kernbotschaft erkor. Damit weckte jener Martin Schulz erfolgreich Hoffnungen auf Abkehr der SPD vom Neoliberalismus. Dass er diese Hoffnungen enttäuschen würde, machte er gleichwohl früh klar. Im Mai 2017 legte er in einer wirtschaftspolitischen „Grundsatzrede“ bei der Industrie- und Handelskammer Berlin ein Bekenntnis zur deutschen Exportorientierung ab: „Die Kritik an unseren hohen Handelsbilanzüberschüssen halte ich für falsch. Wir müssen uns nicht dafür schämen, erfolgreich zu sein. Unsere Exporte sind das Ergebnis der guten Arbeit, die hier im Lande geleistet wird. Wir sind erfolgreich und wir werden es bleiben.“

Gerade in Deutschland, das seit Jahrzehnten mehr exportiert, als es importiert, gelten Handelsbilanz- bzw. Exportüberschüsse als Ausweis guter Wirtschaftspolitik. Wieder und wieder feierte das Land seine „Export-Weltmeisterschaften“, fast als ginge es um Fußball.

Wenn ein Land einen Exportüberschuss aufweist, es also mehr Güter und Dienstleistungen exportiert, als es importiert, dann müssen andere Länder zwingend mehr importieren, als sie exportieren.

Tatsächlich aber gibt es dafür keine überzeugenden Gründe. Wenn ein Land einen Exportüberschuss aufweist, es also mehr Güter und Dienstleistungen exportiert, als es importiert, dann müssen andere Länder zwingend mehr importieren, als sie exportieren. In beiden Fällen spricht man von Außenhandels-Ungleichgewichten. Schließlich ist der Export des einen Landes stets der Import eines anderen. Auf den ersten Blick mögen solche Exportüberschüsse vorteilhaft erscheinen: Die dahinterstehende Beschäftigung ist faktisch ein Export der eigenen Arbeitslosigkeit.

Außerdem müssen sich die Importüberschuss-Länder verschulden, um ihren Importüberschuss zu finanzieren – das Exportüberschuss-Land baut ihnen gegenüber entsprechende Forderungen auf. Es wird zum Gläubiger. Diese Verschuldung der Importüberschuss-Länder kann überwiegend privat sein, wie in den 2000er-Jahren in Spanien, oder sie kann größtenteils öffentlich sein, wie in Griechenland in den Jahren vor Ausbruch der Eurokrise vor mehr als zehn Jahren.

Vermeintlicher Vorteil ist Trugschluss

Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser vermeintliche Vorteil aber als Trugschluss: Dauerhafte Exportüberschüsse (und die daraus resultierende Verschuldung) destabilisieren die Weltwirtschaft und die globalen Handelsbeziehungen. Sie machen die Überschussländer übermäßig stark von der Weltkonjunktur abhängig. Sie befördern Krisen, die in die Vernichtung der Forderungen von Überschussländern gegenüber dem Ausland münden können. Vor allem aber werden Exportüberschüsse im Inland teuer erkauft – durch Lohnverzicht, unzureichende Staatsausgaben, Sozialabbau und mehr soziale Ungleichheit.

Tatsächlich beruhen die deutschen Exportüberschüsse nicht auf „guter“ oder „erfolgreicher“ Arbeit, wie Schulz & Co. behaupten, sondern auf einer unzureichenden Binnennachfrage.

Tatsächlich beruhen die deutschen Exportüberschüsse nicht auf „guter“ oder „erfolgreicher“ Arbeit, wie Schulz & Co. behaupten, sondern auf einer unzureichenden Binnennachfrage. Ein Land mit einem starken Wachstum der Binnennachfrage wird im Regelfall auch seine Importe ausweiten. Die Binnennachfrage setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Investitionen der Unternehmen, staatlichen Ausgaben und privatem Konsum. Wenn etwa der private Konsum aufgrund einer guten Lohnentwicklung boomt, stärkt dies die Binnennachfrage. Ein guter Teil davon kommt Auslandswaren zugute und erhöht deshalb die Importe.

Deutschland hat allerdings seit den 1990er-Jahren eine extrem schwache Binnennachfrage. Dies gilt für alle drei Komponenten: Der Konsum war gehemmt aufgrund einer schwachen Lohnentwicklung und der Zunahme unsicherer Arbeit, die staatliche Nachfrage aufgrund einer gebremsten Entwicklung der Staatsausgaben und der öffentlichen Investitionen. Auch die Unternehmensinvestitionen entwickelten sich schwach – nicht trotz, sondern wegen einer massiven Umverteilung zugunsten der Profite.

Eine solche Strategie ist mit sozialer Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen.

Eine im Verhältnis zum Ausland schwache Lohnentwicklung dämpft dabei nicht nur die Konsumnachfrage und damit die Nachfrage nach importierten Konsumgütern. Sie verbessert vielmehr auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Im Inland produzierte Güter und Dienstleistungen werden im Verhältnis zu denen des Auslands billiger. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt in einer Währungsunion (wie dem Euroraum), in der es keine währungspolitischen Möglichkeiten mehr gibt, dem entgegenzuwirken. Der hohe deutsche Exportüberschuss ist folglich Ergebnis einer Strategie, die auf eine hohe Auslandsnachfrage nach deutschen Produkten zielt und die zugleich die Binnennachfrage und damit die Nachfrage nach Importen ausbremst.

Eine solche Strategie ist mit sozialer Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen. Denn sie geht vor allem auf Kosten der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten: Die schwache Binnennachfrage beruht auf politischen Maßnahmen, die auf niedrigere Löhne, unsichere Arbeit, Sozialabbau, eine Schwächung der Gewerkschaften und Umverteilung von unten nach oben zielen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Exporte (in begrenztem Umfang) auch mit Qualität und Service zu tun haben können: Mit „guter“ oder „erfolgreicher“ Arbeit oder mit guter Wirtschaftspolitik hat all das nichts zu tun. 

Kai Eicker-Wolf ist Referent für finanzpolitische Fragen der GEW Hessen, Patrick Schreiner ist Mitarbeiter bei der ver.di-Bundesverwaltung, Abteilung Wirtschaftspolitik. Das Buch der beiden geht in Teilen zurück auf die Kolumne „Märchen des Neoliberalismus“, die die Autoren in den Publikationen Lunapark21 (hier ist dieser Text in einer früheren Fassung zuerst erschienen) und OXI veröffentlichten. Patrick Schreiner, Kai Eicker-Wolf: Wirtschaftsmärchen. Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales, PapyRossa-Verlag 2023