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LesePeter Februar 2022

Schonungsloser Einblick in das Thema Essstörungen

Das Jugendbuch „Mehr. Mehr. Mehr.“ von Franco Supino wird mit dem LesePeter des Monats Februar ausgezeichnet. Es erzählt in Tagebuchform von Bulimie und Scham.

Der Autor schildert die Dynamik einer Krankheit, die oft versteckt und tabuisiert wird.

Im Tagebuchformat verarbeitet die namenlos bleibende Hauptfigur die Erfahrungen mit ihrer Bulimie. Schonungslos und direkt gewährt sie einen Einblick in ihren Alltag, der einerseits von Scham und Angst, andererseits von der Essstörung bestimmt ist. Unmittelbar erzählt der Autor von der Dynamik einer Krankheit, die oft versteckt und tabuisiert wird.

Tagebücher sind in der Regel Dokumente intimer Gedanken, Gefühle oder Erlebnisse, die nicht unbedingt für die Öffentlichkeit bestimmt sind. So beginnt auch die schemenhaft bleibende Erzählfigur ihre Aufzeichnungen mit einem expliziten Hinweis auf den privaten Charakter ihrer Notizen: „Was ich hier aufschreibe, ist nur für mich.“ Damit ist der Rahmen der folgenden Darstellungen gegeben und für die Leserinnen und Leser wird schnell klar, dass die Schilderungen Einblicke in einen ganz persönlichen Reflexionsprozess geben.

Vor diesem Hintergrund vertraut die Erzählfigur vom 1. bis zum 24. Dezember ihrem Tagebuch alle Facetten ihrer Essstörung an. Und dieses Selbstzeugnis ist erbarmungslos kritisch: Einerseits werden die Zweifel, der Selbsthass und die Scham für das eigene Handeln unvermittelt und direkt formuliert, andererseits werden die rein technischen Aspekte der Bulimie detailreich und gradlinig beschrieben. Ausgangspunkt dafür ist ein Zahnarztbesuch, bei dem deutlich wird, dass die Krankheit ihre Spuren bereits in den Zähnen eingeätzt hat.

Unsichtbar bleiben

Von der erzählenden Figur selbst erfahren wir dabei weder ein konkretes Alter noch ihr Geschlecht. Beides bleibt bewusst im Verborgenen: „Ich kann jeder sein. Frau oder Mann, jung oder alt. Gross oder klein.“ Damit wird einerseits deutlich, dass diese Krankheit nicht zwingend einer bestimmten Personengruppe zugeordnet werden kann. Andererseits nimmt sich die Erzählfigur zunächst selbst die Möglichkeit, die eigene Identität zu finden. Zu groß ist die Angst, entdeckt und aufgrund ihrer Krankheit stigmatisiert zu werden. Mit der Überzeugung, in einer Welt von Äußerlichkeiten zu leben, will sie in ihrer Durchschnittlichkeit nicht durch eine zusätzliche Schwäche auffallen.

Vielmehr gilt es, unsichtbar zu bleiben. Deshalb verheimlicht sie die Krankheit auch vor ihrem Umfeld. Ihre Bulimie-Partys feiert sie in Abwesenheit ihrer Mitbewohner als ritualisierte Festfressen, die sie in Perfektion vorbereitet, in kurzer Zeit zelebriert und anschließend alle Spuren in Windeseile beseitigt. Nur beim Tagebuchschreiben kann sie ihr eigenes Ich zeigen und sich selbst eingestehen, was sie der Außenwelt vorenthält. Die Einträge entsprechen folglich einem emotionalen Erbrechen ihrer tiefsten Emotionen. Wenn es scheinbar nicht mehr weitergeht, stehen die Worte für den Auswurf ihrer inneren Welt: „Es kommt raus, was ich nicht verdauen kann.“

Die narrative und sprachliche Gestaltung der Tagebucheinträge korrespondieren dabei durchgehend mit den sich abwechselnd vollziehenden Qualen, guten Vorsätzen und Zukunftssorgen. Rückblenden erzählen von der Entstehung der Essstörung im Alter von 13 Jahren und reflektieren die bereits erfolgten Therapieversuche. Seither sitzt das „Tier“ im Körper und wird nie satt. Es schreit metaphorisch nicht nur einmal nach „Mehr!“ – und der Titel wird zum Programm. Erst ein Pendant im Außen – ein Fuchs, der das regelmäßig im Wald Erbrochene frisst – gibt den Anstoß für ein Umdenken. Denn der Gedanke daran, ein Wildtier zu zähmen, brächte neue Gefahren mit sich.

Platz für eine andere Geschichte

Aber auch das anstehende Weihnachtsfest sorgt für eine Veränderung und lässt den Wunsch nach einem Leben ohne Abhängigkeiten immer größer werden. Die Erzählfigur vollzieht eine innere Entwicklung. Heiligabend sind drei Tage eines gesunden Lebens geschafft. Das Tagebuch hat seine Funktion erfüllt und soll vernichtet werden. Grund dafür ist nicht nur die Tatsache, dass es niemand lesen soll. Stärker ist der Wunsch danach, dem neuen Menschen Platz für eine andere Geschichte zu geben.

Mit diesem zwar offenen, aber dennoch richtungsweisenden Ende bleiben die Leserinnen und Leser nicht völlig frustriert alleingelassen. Es eröffnet Perspektiven der Hoffnung und Angebote zur Anschlusskommunikation, um menschliche Erfahrungen nachzuvollziehen und einzuordnen. Das fördert nicht nur die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, sondern bietet auch Möglichkeiten für unterschiedliche Deutungsspielräume literarischer Texte.

Zur Unterstützung für die schulische Auseinandersetzung mit der Lektüre hat der Verlag kostenlose Unterrichtsmaterialien zusammengestellt.

Der Autor

Franco Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und lebt mit seiner Familie in Solothurn. Er verfasst Kinder- und Jugendbücher, Romane, Features, Rundfunkerzählungen und Hörspiele.

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Franco Supino, Mehr. Mehr. Mehr., Taschenbuch, 52 Seiten, da bux, Werdenberg – Schweiz: 1. Auflage 2021, ISBN 978-3-906876-26-9, 11,88 Euro, ab 12 Jahren

Die Auszeichnung LesePeter wird monatlich vergeben von der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW.