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Rechtsextremismus

Mehr als distanziert

Die aktuelle Mitte-Studie bringt erschreckende Erkenntnisse: 8 Prozent haben ein manifestes rechtsextremes Weltbild, fast ebenso viele wünschen sich einen „starken Führer“.

Foto: Shutterstock/GEW

Es gibt einen guten Grund dafür, dass der Europapolitiker Martin Schulz (SPD) in seiner Zeit als Präsident des Europäischen Parlaments so beliebt war: Um klare Worte gegen Rechts war er nie verlegen. Seine Anmoderation der aktuellen Mitte-Studie, die rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in der Bevölkerung untersuchte, erinnerte an diese Zeiten. Er sei „erschüttert“, so der heutige Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), über die Daten, die ein Team um den Bielefelder Sozialpsychologen Prof. Andreas Zick in einer repräsentativen Umfrage unter gut 2.000 Menschen im Januar und Februar 2023 erhoben hatte. Rund 6 Prozent in Deutschland unterscheiden zwischen „wertem“ und „unwertem“ Leben, ebenso viele befürworten eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und wünschen sich einen „starken Führer“. Er sei „in dem festen Glauben aufgewachsen, dass sich so etwas nicht wiederholen kann“, erklärte Martin Schulz, Jahrgang 1955.

Anstieg rechtsextremer Einstellungen bei Jüngeren

Die alle zwei Jahre im Auftrag der FES durchgeführte Mitte-Studie enthält viel Erschreckendes über die „distanzierte Mitte“, so der Titel der Studie. Der Anstieg von Menschen mit „manifest rechtsextremem Weltbild“ ist die beunruhigendste Erkenntnis: Auf 8 Prozent ist ihr Anteil in den zurückliegenden Jahren hochgeschnellt – in den Vorgängerstudien lag der Anteil bei 2 bis 3 Prozent. Im Graubereich befinden sich rund 20 Prozent der Befragten; etwa 70 Prozent lehnen rechtsextreme Einstellungen klar ab. Unter 18- bis 34-Jährigen zeigen sogar 12,3 Prozent ein rechtsextremes Weltbild. Im Verhältnis zu den Älteren sind bei den Jüngeren besonders stark die Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Befürwortung einer Diktatur ausgeprägt. Der „drastische Anstieg“ in der jüngsten Befragtengruppe erschrecke sie am meisten, erklärte die Mitautorin der Studie, die Sozialpsychologin Prof. Beate Küpper; in den Vorjahren seien eher die Älteren bei dieser Antwort überrepräsentiert gewesen. „Was ist da in den zurückliegenden Jahren passiert?“

Abgleiten in Verschwörungsmythen

Eine mögliche Antwort auf diese Frage, so Küpper, sei die Covid-19-Pandemie. Laut Küpper stiegen während der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen zwar Solidarität und Rücksicht messbar. Doch der Rückzug aus dem öffentlichen Raum sorgte offenbar auch für ein Abgleiten in Verschwörungsmythen, denen mit 38 Prozent mehr als jede und jeder Dritte anhängt. Sie glauben, Politiker seien „Marionetten“ (38 Prozent) und dass die Regierung das Volk betrügt (32 Prozent). Das ist ein Anstieg um rund ein Drittel im Vergleich zu 2021. Gleichgeblieben ist, dass antidemokratische Einstellungen in den ostdeutschen Ländern verbreiteter sind als im Westen.

Eine neue Erkenntnis, die teils ebenfalls Pandemie-verknüpft sein könnte: Wer sich einsam und isoliert führt, neigt eher zu menschenfeindlichen und antidemokratischen Einstellungen – und hat weniger Vertrauen in die Demokratie. Letztere ist auf einem historischen Tiefpunkt: Nur noch 57 Prozent sind der Überzeugung, die Demokratie funktioniere „im Großen und Ganzen ganz gut“. 20 Prozent teilen die Aussage, Deutschland gleiche „mehr einer Diktatur als einer Demokratie“. 21 Prozent halten den Klimaschutz für „Ökoterrorismus gegen die eigene Bevölkerung“. Alarmieren sollte das die Politik aus vielen Gründen, aber auch aus purem Selbstschutz: 13,2 Prozent stimmen der Aussage zu, einige Politiker hätten es „verdient, wenn die Wut gegen sie in Gewalt umschlägt“.  „Die Zeit der Gemütlichkeit ist vorbei“, sagte Martin Schulz bei der Vorstellung der Studie – das darf man wohl noch für eine Untertreibung halten.

Neoliberaler Leistungsethos, Unsicherheit, Kontrollverlust

Eine weitere Erkenntnis: Viele Menschen identifizieren sich mit neoliberalen Ideen von Leistungsbereitschaft und Erfolgsorientierung – und erleben zugleich Unsicherheit und Kontrollverlust. „Entsicherte Marktförmigkeit“ nennen die Sozialforscherinnen und -forscher diesen Zustand, und stellen fest: Wer eine marktförmige Orientierung teilt und ein Gefühl der Entsicherung erlebt, neigt besonders zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechtsextremen Einstellungen.

Die Autorinnen und Autoren fordern daher mehr politische Bildung und eine Demokratisierung von Schule, Arbeit, Ausbildung. Sie weisen aber auch auf die Schattenseiten der „neoliberalen Leistungsgesellschaft“ hin: Diese fördere unter jenen, die ihr nicht entsprechen, „Hass und Demokratiedistanz“. Das „Infragestellen dieser Strukturen“ sei notwendig, wenn die sozial-ökologische Transformation gelingen soll.

Info: Die Mitte-Studien geben Auskunft über die Verbreitung, Entwicklung und Hintergründe rechtsextremer, menschenfeindlicher und antidemokratischer Einstellungen in Deutschland. Für die diesjährige Studie wurden im Januar und Februar über 2.000 Personen im Alter von 18 bis 94 Jahren befragt, je zur Hälfte an Mobil- und Festnetztelefonen. Durchgeführt wird die Studie vom Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG); Leiter ist der Sozialpsychologe Prof. Andreas Zick. Die Friedrich-Ebert-Stiftung gibt seit 2006 etwa alle zwei Jahre eine neue Ausgabe der Mitte-Studie heraus.