Das Reden über Zuwanderung und Integration bestimmt in Deutschland nun schon seit mehreren Jahren die politischen Debatten. Kein anderes Thema scheint das politische Denken und Handeln so herauszufordern wie der Schutz nationalstaatlicher Grenzen vor ungewollter Zuwanderung. Dabei hat sich die öffentliche Debatte hierzu in den vergangenen drei Jahren radikal verschoben: Bilder des ertrunkenen syrischen Jungen Alan Kurdi gingen im September 2015 um die Welt und lenkten die Aufmerksamkeit auch in Deutschland auf die verzweifelte Lage geflüchteter Menschen. Die heutige Diskussion ist fast ausschließlich darauf ausgerichtet, Menschen an den Grenzen Deutschlands und Europas abzuweisen und ihre Anwesenheit in Deutschland zu delegitimieren.
Mit der Stigmatisierung Asylsuchender als Kriminelle oder auch „Asylschmarotzer“, der Diskussion um Transitzentren und Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union wird eine Perspektive normalisiert, die Zuwanderung als eine Zumutung für eine nationale Gemeinschaft begreift, deren Mitglieder allein Anspruch auf Rechtssicherheit, staatliche Zuwendungen und Solidarität haben. Eine solche Perspektive wird in vielen Teilen der Bevölkerung nicht mit Rassismus assoziiert: Rassismus diffamiert in unserer Alltagswahrnehmung nach einer völkischen und biologistischen Logik bestimmte Menschengruppen als minderwertig. Demgegenüber scheint national orientierte Politik ja nur die natürlichen Grenzen von Nationalstaaten zu verteidigen – die nun mal das Recht auf Aufenthalt, Arbeit und wohlfahrtsstaatliche Leistungen primär an Staatsbürgerschaft und Mitgliedschaft in einer nationalen Gemeinschaft koppeln. Diese sehr verbreitete, veralltäglichte Sicht auf das, was Menschen qua nationalstaatlicher Zugehörigkeit zusteht oder auch nicht, beruht allerdings auf einigen Trugschlüssen.
Wenn wir jungen Menschen in unseren Bildungsinstitutionen in Deutschland Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit vermitteln wollen, dann ist es zutiefst paradox, diese nur innerhalb nationalstaatlicher Grenzen denken zu wollen.
Der relative Wohlstand, den Menschen in Deutschland im Vergleich zu vielen Ländern des globalen Südens und Osteuropas genießen, ist nicht einfach Ergebnis nationaler Anstrengungen. Diese Sicht ignoriert erstens die Tatsache, dass die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus eigener Kraft, sondern mit tatkräftiger Unterstützung der westlichen Alliierten aufgebaut und als Front im Kalten Krieg wirtschaftlich und sozialstaatlich stark gemacht wurde. Sie ignoriert zweitens auch die noch nicht sehr weit zurückliegende Geschichte der – auch – deutschen Kolonialzeit, als Europäer mit größter Selbstverständlichkeit nicht nur ins Ausland auswanderten, sondern sich Territorien und Ressourcen in vielen Teilen der Welt gewaltsam aneigneten. Diese Sicht ignoriert drittens auch die globalen Wertschöpfungsketten einer heutigen kapitalistischen Weltordnung, in der die Grenzen von Nationalstaaten globale Ungleichheiten stützen und zugleich ideologisch legitimieren. Die Armut und Not der anderen hat mit unserem Reichtum zu tun – diese unbequeme Einsicht öffnet den Weg dahin, eine andere Perspektive auf Flucht- und Armutsmigration zu entwickeln.
Wenn wir jungen Menschen in unseren Bildungsinstitutionen in Deutschland Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit vermitteln wollen, dann ist es zutiefst paradox, diese nur innerhalb nationalstaatlicher Grenzen denken zu wollen. Es ist kein Verdienst, sondern Glück, in einem Land geboren worden zu sein, das seiner Bevölkerung aktuell vergleichsweise gute Lebensbedingungen und -chancen bietet. Doch auch wer zynisch auf die national definierte Abstammungsgemeinschaft setzt, um die Grenzen von Solidarität zu bestimmen – die Herausforderungen, die als Folge der imperialen Lebensweise auf uns alle zukommen, werden nicht durch Abschottung gelöst werden können. Die Folgen von Klimawandel und Umweltzerstörung respektieren keine nationalstaatlichen Grenzen.