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Sprachsensibler Fachunterricht

„Jede Stunde 20 neue Begriffe“

Damit sie an Berufsschulen nicht scheitern, brauchen junge Flüchtlinge viel Unterstützung. Von sprachsensiblem Fachunterricht profitieren auch alle anderen Schülerinnen und Schüler. Vorhandenes Unterrichtsmaterial lässt sich dazu weiterentwickeln.

Schülerin Esranur im Kunstunterricht der internationalen Förderklasse am Gertrud-Bäumer-Berufskolleg (GBBK) in Duisburg. Foto: Bert Butzke

Mit ihrem Selbstporträt ist sie nichtzufrieden. „Die Nase ist ein bisschen dick“, findet Esranur aus der Türkei. Die 16-Jährige greift zum Radiergummi. Ihr Mitschüler Osasere aus Nigeria übt derweil perspektivisches Zeichnen: dicke Blockbuchstaben, die das Wort Jesus ergeben. „Ich bin ein Christ“, erklärt er. Und was „Vogelperspektive“ bedeutet, weiß Osasere inzwischen auch.

Kunstunterricht in der „Internationalen Förderklasse“ am Gertrud-Bäumer-Berufskolleg (GBBK) in Duisburg. An einem langen Tisch sitzen 14 Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien, deren Deutsch für den Regelunterricht nicht ausreicht. Warum Kunst, wenn es um das Deutschlernen geht? Ganz einfach. Lehrerin Angela Ronge vermittelt darin auch Vokabeln wie „Bleistift“, „Porträt“ oder „Horizontlinie“. Zugleich üben die jungen Einwanderer die Alltagssprache – untereinander. „Als Brücke zwischen ihnen gibt es nur Deutsch“, sagt die 29-jährige Lehrerin. Wer die Förderklasse erfolgreich durchlaufen hat, wechselt in den Regelunterricht.

Viele Schülerinnen und Schüler stehen dann vor neuen Hürden: Jedes Fach, ob duale Ausbildung, Berufsfach- oder Fachoberschule, hat ein eigenes Vokabular. „In Biologie werden pro Unterrichtsstunde 20 neue Begriffe vermittelt“, erklärt Erik Schneider, Lehrer für Deutsch und Biologie am GBBK. „Wer nur 2 Prozent davon nicht kennt, hat Schwierigkeiten, einen Fachtext zu verstehen“, so der 52-Jährige. Erforderlich sei „sprachsensibler Fachunterricht“. Schneider berät Schulen im Regierungsbezirk Düsseldorf, wie dieser Unterricht aussehen sollte.

„Sprachsensibler Unterricht tut allen gut.“ (Jan Boland)

Darum kümmert sich auch Jan Boland von der Landesweiten Koordinierungsstelle (LaKI) in Dortmund, die die 54 Kommunalen Integrationszentren in Nordrhein-Westfalen (NRW) berät und begleitet. Lehrkräfte sollten überlegen, wo in Fachtexten sprachliche Hürden sind und verschachtelte Sätze oder komplizierte Formulierungen gestrichen werden könnten, sagt er. Außerdem rät Boland, selbst Berufsschullehrer, Kollegien an berufsbildenden Schulen, „sprachsensible“ Arbeitsblätter zu erstellen. Auch Vokabellisten seien nützlich, betont der 37-Jährige: Davon profitierten nicht nur Zugewanderte. Denn auch viele Jugendliche ohne Migrationshintergrund verstünden Fachtexte nicht: „Sprachsensibler Unterricht tut allen gut.“

Allerdings hätten viele Fachlehrkräfte Vorbehalte, räumt Boland ein – nach dem Motto: „Geh mir weg mit Sprache.“ Dann sei Überzeugungsarbeit zu leisten. „Unterrichtsmaterial kann mit wenigen Handgriffen sprachsensibel weiterentwickelt werden“, betont er. Es gehe auch um Haltungsfragen: „Bin ich bereit, meine Lehre so zu gestalten?“ Sprachsensibler Unterricht sei zwar an der Mehrzahl der berufsbildenden Schulen in NRW ein Thema. Doch es brauche Zeit, „um dessen Vorteile hervorzuheben“.

„Blutdruck, Blutzucker oder Pflaster – davon hatte ich noch nie gehört.“ (Mohammad)

Auf die „enorme Bedeutung kontinuierlicher Sprachförderung“ verweist auch Studie, die vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Auftrag gegeben wurde. BIBB und BA wollten 2016 wissen: Was wurde aus jenen Jugendlichen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, die bei der BA als Bewerber für eine duale, eine schulische Ausbildung oder eine Weiterbildung gemeldet waren? Ergebnis: Immerhin 31 Prozent der jungen Geflüchteten hatten eine duale Ausbildung begonnen. Und welche Faktoren führen dazu, dass der Einstieg in die berufliche Ausbildung gelingt? Zu nennen sind laut BIBB und BA „insbesondere praktische Erfahrungen im Betrieb“, etwa durch Praktika; außerdem die „individuelle Betreuung durch Mentoren bzw. Mentorinnen“. Keine Rolle spielten hingegen berufliche Erfahrungen aus dem Herkunftsland. Und: Auch jene, die einen Ausbildungsplatz gefunden hatten, äußerten „großen Unterstützungsbedarf“.

In Duisburg treffen wir Mohammad. 2015 floh er von Syrien nach Deutschland, am GBBK wurde er der Internationalen Förderklasse zugeteilt. „Dort habe ich Umgangssprache gelernt“, erzählt der 20-Jährige. 2017 absolvierte er ein Jahrespraktikum in einer Klinik, drei Tage pro Woche. Dort stand Mohammad vor neuen Sprachbarrieren. „Blutdruck, Blutzucker oder Pflaster – davon hatte ich noch nie gehört.“ Er war gezwungen, schnell zu lernen. „Wenn ich zu den Patienten gehe, muss ich mit ihnen sprechen.“ Heute besucht Mohammad die Abschlussklasse der Fachoberschule, Schwerpunkt Gesundheit. Sein ehrgeiziges Ziel: „Ich will Medizin studieren.“

GEW fordert Fortbildungen für Lehrkräfte

Lehrer und Sprachexperte Schneider nennt weitere Faktoren, damit Geflüchtete am Berufskolleg klarkommen. Wichtig sei, dass das häusliche Umfeld stimmt. Wer in einer Sammelunterkunft leben muss, habe keine Möglichkeiten, sich zurückzuziehen: „Zum Lernen brauche ich Ruhe.“

Welche Rahmenbedingungen sind nötig, damit Zugewanderte eine berufliche Ausbildung erfolgreich durchlaufen können? Damit befasste sich auch die GEW bei ihrem Gewerkschaftstag 2017 in Freiburg im Breisgau. Von „zentraler Bedeutung“ seien die berufsbildenden Schulen. Auch die Bildungsgewerkschaft macht sich für eine „sprachsensible Gestaltung der Abschlussprüfungen“ sowie entsprechende Fortbildungsangebote für Lehrkräfte stark. Zudem müsse die maximale Klassengröße in der Ausbildungsvorbereitung bei zwölf Schülerinnen und Schülern liegen, und es brauche viele Betriebspraktika. Ebenfalls wichtig für den Bildungserfolg: ein gesicherter Aufenthaltsstatus „bis zum Abschluss einer Berufsausbildung und anschließender mindestens dreijähriger Berufsausübung“.