Wenn Martina Kramer (Name geändert) nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag die Haustür hinter sich schließt, dann breitet sich Leere aus. Bleierne Erschöpfung drückt sie nieder. Nach achteinhalb Stunden Organisieren, Reden, Trösten, Erklären, Helfen, Schlichten und einem nie aufreißenden Lärmteppich aus Kinderkrakeelen und dem Gepolter fallender Bauklötzchen will sie abends nur noch eines: Ruhe. Jetzt noch ins Kino? Sich mit Freundinnen treffen? Zum Klönen? Bloß nicht.
„Ich bin im Moment ganz schön geschafft“, sagt sie und schüttelt etwas ratlos den Kopf. „Irgendwie fehlt mir die Lebensqualität, wenn ich von der Arbeit komme. Dabei achte ich schon auf mich. Ich mache Yoga, ich mache meine Pausen, ich wende Entspannungstechniken an.“ Und doch scheint ihr Job sie einfach aufzufressen. „Je älter ich werde, desto anstrengender wird es. Man ist einfach nicht mehr so belastungsfähig.“
Martina Kramer ist Erzieherin in einer kleinen Kita in einer größeren Stadt in Ostdeutschland. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. „Ich will nicht, dass mir gekündigt wird“, sagt sie. 53 Jahre ist sie jetzt alt. In den gut drei Jahrzehnten, die sie in ihrem Beruf arbeitet, hat sich einiges am Profil geändert. „Bei uns gibt es zum Beispiel das Konzept des teiloffenen Arbeitens, das heißt: Die Kinder sollen sich selbst bilden und wir leisten Hilfestellung.“ Martina Kramer findet diesen Ansatz großartig. „Aber das erfordert natürlich viel mehr Aufmerksamkeit, die man den Kindern entgegenbringen muss, als wenn man wie früher einfach Ansagen macht.“
Für Aufmerksamkeit braucht man Ruhe und Zeit. Beides ist an Martina Kramers Arbeitsplatz Mangelware. Dem Einsatzplan nach kümmern sich drei Erzieherinnen gleichzeitig um zwei Gruppen mit insgesamt 36 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. Zu dritt sind Martina Kramer und ihre Kolleginnen aber eher selten; meist betreuen sie ihre Gruppen zu zweit. Urlaub, Fortbildungen, Überstundenabbau, etwa nach Elternabenden, immer mehr Krankheitstage – in Nullkommanichts schnurrt die auf dem Papier noch entspannte Betreuerinnenquote zusammen und heraus kommen Arbeitstage in ständiger Hetze und mit dem permanenten Gefühl der Überforderung.
Ein Knochenjob
Kein Einzelfall: Der Beruf der Erzieherin ist in Deutschland ein Knochenjob. Betroffen sind überwiegend Frauen. Rund 97 Prozent der über 450 000 Beschäftigten dieser Berufsgruppe sind weiblich: Frauen, die viel arbeiten und wenig verdienen – und die darunter zunehmend auch gesundheitlich leiden, wie zwei aktuelle Studien zeigen. „Alarmierend“ nennt Johannes Jungbauer, Psychologieprofessor an der Katholischen Hochschule Aachen, seine Ergebnisse.
Fast 850 Erzieherinnen hat Jungbauer zu den speziellen Belastungen in ihrem Beruf befragt und dabei herausgefunden: Beinahe jede Fünfte (19 Prozent) leidet unter „sehr starken beruflichen Stressbelastungen“ und zählt damit zur Gruppe der extrem Burnout-Gefährdeten. Damit ist die Quote mehr als doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Fast 15 Prozent klagen über „deutliche bis starke psychosomatische und psychische Beschwerden“. Für ihn ist das ein guter Grund, Alarm zu schlagen, denn es sind vor allem die schlechten Rahmenbedingungen, die den Kita-Mitarbeiterinnen zusetzen.
Hoher Zeitdruck
„Stressquelle Nummer eins“ ist laut Jungbauer die mangelhafte Personalausstattung in den Einrichtungen. Die Folgen: zu große Gruppen, hoher Zeitdruck und häufig Mehrarbeit, wenn zum Beispiel Kolleginnen krankheitsbedingt ausfallen. Weitere Faktoren, die den Erzieherinnen an die Substanz gehen, sind ein hoher Lärmpegel, die immer umfangreicheren Dokumentationspflichten, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, überhöhte Ansprüche der Eltern – und mangelnde Wertschätzung. „Bei vielen Erzieherinnen hat der Burnout auch mit einer beruflichen Gratifikationskrise zu tun“, sagt Jungbauer. „Also mit dem Gefühl, dass sie für ihr Engagement nicht persönlich anerkannt und angemessen entlohnt werden.“
Wie wenig die Leistung der Erzieherinnen in der Gesellschaft oft noch geschätzt wird, davon kann auch Susanne Viernickel berichten. Die Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit, die an der Alice Salomon Hochschule in Berlin arbeitet, veröffentlichte im August 2013 zusammen mit der Bewegungspädagogik-Professorin Anja Voss die „STEGE“-Studie. Die Wissenschaftlerinnen werteten dafür die Angaben von 2744 Fach- und Leitungskräften aus über 800 Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen aus.
Rund 26 Prozent der Leiterinnen fühlten sich demnach in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung ausgebrannt; bei 13,7 Prozent war ein Burnout ärztlich diagnostiziert. Von den Fachkräften fühlten sich 16 Prozent erschöpft, neun Prozent hatten die eindeutige Diagnose Burnout. Erzieherinnen sind zudem signifikant stärker gesundheitlich beeinträchtigt als Frauen in anderen Berufen – und zwar quer durch alle Altersgruppen. Bei den 45- bis 64-Jährigen zum Beispiel leiden 40 Prozent der Erzieherinnen unter chronischen gesundheitlichen Beschwerden; in der Vergleichsgruppe sind es 34 Prozent.
Vor allem aber fanden Viernickel und Voss heraus, dass die Rahmenbedingungen in den Kitas entscheidend auf den Gesundheitszustand der Beschäftigten durchschlagen. Um die Einrichtungen zu beurteilen, erstellten die Berliner Wissenschaftlerinnen einen Index mit 13 Faktoren wie: Gibt es angemessenes Mobiliar, Lärmschutz, einen Rückzugsraum für die Erzieherinnen? Werden Pausen eingehalten, wie sieht der Personalschlüssel aus und wie hoch ist der Zeitdruck?
Hohes Gesundheitsrisiko
Das Ergebnis: Je schlechter die Rahmenbedingungen in einer Kita sind, desto schlechter ist es um die Arbeitsfähigkeit der Erzieherinnen bestellt. Bei den Fachkräften ist das Risiko einer verminderten Arbeitsfähigkeit in Einrichtungen mit schlechten Bedingungen um das Zweifache höher als in Kitas mit mittelmäßiger oder guter Strukturqualität. Bei den Leitungskräften beträgt es sogar das Zweieinhalbfache.
Die Wissenschaftlerinnen hoffen jetzt, dass mit Studien wie ihrer die Sensibilität für das Problem steigt. „Als wir unsere Ergebnisse veröffentlicht haben, gab es Kommentare im Internet wie: Die Erzieherinnen sollen mal nicht so rumjammern, die sollten erst mal auf dem Bau arbeiten“, sagt Viernickel. „Das fand ich interessant, aber auch hochproblematisch. Es hat mir gezeigt, dass viele gar nicht verstehen, welche Herausforderung darin liegt, immer präsent zu sein, immer ein offenes Ohr für die Kinder zu haben und immer angemessen zu reagieren.“
Wer aber chronisch erschöpft ist, den kostet es große Kraft, für Kinder die notwendige Geduld aufzubringen. Die Krankheitsquote steigt. Am Ende setzt ein Schneeballeffekt ein, wie Johannes Jungbauer erläutert: „Wenn eine Erzieherin stark gestresst ist, wird nicht nur ihr persönliches Wohlbefinden beeinträchtigt, das wirkt sich auch auf die Atmosphäre im Team aus. Letztlich leiden zudem die Kinder darunter, wenn sich Erzieherinnen unter Stress genervt, ungeduldig, aggressiv oder lustlos verhalten.“
Beruf aufwerten
Schon kleine Änderungen wie Lärmschutz, geeignetes Mobiliar oder Gesundheitsberatung durch die Unfallkassen könnten eine Menge bewirken, ohne viel zu kosten, sagt Viernickel. „Aber vor allem haben die Erzieherinnen ein Zeitproblem“, betont die Forscherin. „Personal ist der große Kostenfaktor, aber es ist auch eine wichtige Stellschraube.“
„Wir brauchen eine bessere Personalausstattung, wir müssen mehr Erzieherinnen zeitgemäß ausbilden, und wir kommen nicht darum herum festzustellen: In unserer Leistungsgesellschaft bemessen sich die Wertschätzung und der Status des Berufs natürlich auch nach dem Gehalt“, pflichtet Johannes Jungbauer ihr bei. Nur durch eine Aufwertung des Berufs werde es gelingen, genügend leistungsfähige junge Leute für die Kitas zu gewinnen. „Meines Erachtens stellt sich dabei nicht nur die Frage: Wie wichtig sind uns unsere Erzieherinnen? Sondern auch: Wie wichtig sind uns unsere Kinder?“