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LesePeter Oktober 2023

Graphic Novel „Rude Girl“ prämiert

Der LesePeter geht im Oktober 2023 an die Graphic Novel „Rude Girl“. Birgit Weyhe entwickelt in dem Comic die Geschichte von Crystal und ihrer Einwandererfamilie.

Die Graphic Novel erzählt die Biografie einer amerikanischen Germanistik-Professorin mit karibischen Wurzeln. Dabei wird der Schaffensprozess der Autorin in Zwischenkapiteln thematisiert. So können Leserinnen und Leser verschiedene Perspektiven auf Fragen rund um Klassismus, Rassismus, kulturelle Aneignung etc. einnehmen und reflektieren.

Die Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW zeichnete das Buch mit dem LesePeter für den Monat Oktober aus.

 

Der Graphic Novel „Rude Girl“ ist von einer autofiktionalen Rahmenerzählung umschlossen. Die Autorin erzählt in dieser von ihrem Besuch eines amerikanischen Germanistik-Kongresses. Auf diesem wurde ihr aufgrund ihrer Graphic Novel „Madgermanes“ kulturelle Aneignung vorgeworfen. Dieser Vorwurf „beleidigt[e]“ sie. Sie beschließt das erste Kapitel mit den ironischen Worten: „In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben“. Die Stärke der Graphic Novel besteht darin, nicht bei dieser Haltung stehen zu blieben, sondern mit literarischen Mitteln auf eine Erkenntnisreise zu gehen. Dies geschieht anhand der Biografie von Priscilla Layne.

Sie ist Professorin für Germanistik sowie für „African and African American Diaspora Studies“ und traf sich mit der Autorin, um über deren Werke zu sprechen. Die beiden verstanden sich so gut, dass die vorliegende Graphic Novel aus den Treffen entstand. Die Lebensgeschichte der Professorin ist spektakulär. Mit ihren karibischen Wurzeln und ihrem proletarischen Elternhaus war sie von Anfang an verschiedenen Diskriminierungsformen ausgesetzt. Für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler war ihr Habitus zu weiß, den Weißen war ihre Haut zu dunkel. Deshalb nannte man sie „Oreo“.

Sie erschien ihrer Umgebung innen weiß und außen schwarz wie die Kekse jener Marke. Die Graphic Novel sollte ursprünglich auch so heißen. Lizenzprobleme verhinderten dies. Der alternative Titel „Rude Girl“ bezieht sich auf die Bezeichnung von Mädchen und Frauen in der in England entstandenen, proletarischen Skinheadkultur. Dieser fühlte sich Priscilla Layne zugehörig. Als sie einen akademischen Weg einschlug, entfremdete sie sich von ihren Skinhead-Freundinnen und Freunden. Als Rude Girl mit der szenetypischen Frisur fiel sie jedoch auch an der Universität durch Nichtkonformität negativ auf. Diese Zusammenhänge sind nur wenige von vielen Beispielen, wie in „Rude Girl“ von Identitätsfragen und eng damit verknüpften Diskriminierungsformen erzählt wird.

Priscilla Layne scheint nie so ganz zu ihrem Umfeld zu passen. Sie erfindet sich neu, lernt unentwegt dazu und geht ihren eigenen Weg. Auf diesem Weg vermischen sich die kulturellen Einflüsse zu etwas Neuem. Kulturelle Identität erscheint damit als dynamische Größe, wodurch einem verkürzten Verständnis des Konzepts „kulturelle Aneignung“ der Boden entzogen wird. Dem Vorwurf der kulturellen Aneignung begegnet die Autorin jedoch nicht nur inhaltlich, sondern auch formensprachlich. Zwischen je zwei Kapiteln findet man ein zweifarbiges Reflexionskapitel. In diesen wird davon berichtet, wie Priscilla Layne auf das jeweils vorhergehende Kapitel reagierte, welche weiteren Kontextinformationen wichtig sind und welche Tipps sie zur Verbesserung vorschlägt. Damit wird die Differenz zwischen der Perspektive der Autorin und jener der Protagonistin vor Augen geführt.

Im jeweils folgenden Kapitel sieht man zum Teil, wie die Autorin die Tipps bereits umsetzt. Beispielsweise zeichnet die Autorin die Figuren am Anfang ausschließlich mit weißer Hautfarbe. Im zweiten Reflexionskapitel merkt die Protagonistin an, dass die Spaltung der Gesellschaft entlang der Hautfarben ein Fakt sei, den man nicht übergehen dürfe. Die Darstellung mit schwarzer Farbe würde sich aber nicht eignen, da diese wie bei „Madgermanes“ an Blackfacing erinnern würde. Die farbigen Figuren erscheinen anschließend mit brauner Hautfarbe. Durch solche Wechselwirkungen zwischen den Kapitelebenen wird der Schaffensprozess metafiktional thematisch.

Im Schlusskapitel, das wieder der Rahmenhandlung angehört, reflektiert die Autorin über diesen Schaffensprozess. Sie denkt darüber nach, dass sie durch die Arbeit an der Graphic Novel lernte, wie ihre eigene Perspektive auf Gesellschaft den Schaffensprozess prägte. Beispielsweise unterschätzte sie den Einfluss von Klassismus auf die amerikanische Gesellschaft, und setzt diese Blindstelle mit ihrem bürgerlichen Elternhaus in Beziehung.

„Rude Girl“ erweist sich als erste Wahl, wenn man in Bildungszusammenhängen oder darüber hinaus an einer literarischen Verhandlung von Themen wie kulturelle Aneignung, Rassismus, Klassismus etc. interessiert ist. Es lässt sich einwenden, dass der Reflexionsgrad auch im Schlusskapitel größer sein könnte. Die Graphic Novel bietet jedoch große Qualitäten für die Bildung in einer Welt, mit deren Komplexität viele überfordert sind. Sie plädiert nicht nur für Offenheit, Neugier und Empathie. Sie macht diese Werte erlebbar.

Die Autorin und Zeichnerin

Birgit Weyhe wurde 1969 in München geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit in Ostafrika. Nach einem Master-Abschluss in Germanistik und Geschichte studierte sie ab 2002 Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Im Jahr 2015 gewann ihre Graphic Novel „Madgermanes“ den Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung. Ein Jahr darauf erhielt sie den Max-und-Moritz-Preis für den besten deutschen Comic. 2022 wurde sie als beste deutschsprachige Comiczeichnerin auf dem Internationalen Comic-Salon Erlangen geehrt und war die erste Comiczeichnerin, die das renommierte Hamburg Lessing-Stipendium erhielt.

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Rude Girl, Text & Zeichnung: Birgit Weyhe, avant-verlag 2022, 312 Seiten, Softcover, 17 x 24 cm, vierfarbig, ISBN: 978-3-96445-068-5, 26 Euro, ab 16 Jahren