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„Wirtschaftsmärchen“

Ein Beschäftigungswunder, das keines ist

Neoliberale Mythen über Wirtschaft, Arbeit und Sozialstaat dominieren den politischen und medialen Diskurs. Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf haben sich in ihrem Buch „Wirtschaftsmärchen“ kritisch mit diesen Narrativen auseinandergesetzt.

Cartoon: Freimut Woessner

Es war einmal eine Stiftung, die sich mit der Unterstützung neoliberalen Gedankenguts in der Vergangenheit immer wieder besonders hervortat: die Bertelsmann Stiftung. 2014 veröffentlichte sie einen Bericht zur deutschen Arbeitsmarktpolitik, in dem es unter anderem hieß: „Durch die stärkere Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und von Niedriglohnjobs ist der deutsche Arbeitsmarkt insgesamt flexibler und damit aufnahmefähiger geworden.“

Dieses Loblied zielte auf die sogenannte Agenda 2010, die die damalige rot-grüne Bundesregierung Mitte der 2000er-Jahre umgesetzt hat. SPD und Grüne wollten den Arbeitsmarkt für Unternehmen angenehmer machen: Leistungen für Erwerbslose beispielsweise haben sie gekürzt und mit Strafen bei „Fehlverhalten“ unterlegt, den Kündigungsschutz geschwächt, den Niedriglohnsektor ausgeweitet, atypische Beschäftigung erleichtert. Hierdurch entstünden neue Jobs, hieß es.

Die Zahl der abhängig Beschäftigten ist in Deutschland zwischen 2005 und 2017 um 14,5 Prozent gestiegen, die Zahl der gearbeiteten Stunden aber nur um 8,5 Prozent.

Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Zwar stieg die Zahl der Erwerbstätigen und der abhängig Beschäftigten in den Jahren nach der Agenda 2010. Allerdings war ein nennenswerter Teil dieser Entwicklung schlicht darauf zurückzuführen, dass Arbeit auf mehr Köpfe verteilt wurde. Die Zahl der abhängig Beschäftigten ist in Deutschland zwischen 2005 und 2017 um 14,5 Prozent gestiegen, die Zahl der gearbeiteten Stunden aber nur um 8,5 Prozent.

Und selbst dieser verhaltene Anstieg der Arbeitsstunden war keineswegs auf die Arbeitsmarktflexibilisierung zurückzuführen. Vielmehr wuchsen die Reallöhne in Deutschland damals nach langer Zeit wieder. Der Aufschwung und die positive Beschäftigungsentwicklung seit etwa 2012 waren also ganz wesentlich von der Binnennachfrage getragen. Die positiven Folgen steigender Löhne widersprachen den Annahmen der Agenda 2010: Ihr zufolge sollten ja niedrigere Arbeits- und Lohnkosten zur Schaffung von Arbeit führen, nicht höhere.

Forschung zu flexiblen Arbeitsmärkten

Hinzu kommt, dass Deutschland seinen Exportüberschuss seit der Agenda 2010 stark ausgeweitet hatte. Damit exportierte es seine Arbeitslosigkeit in andere Länder. In den 2000er-Jahren trug diese Politik wesentlich zur sogenannten Eurokrise bei. Berücksichtigt man all dies, dann bleibt vom angeblichen Beschäftigungswunder der Agenda 2010 nichts übrig.

Aber auch losgelöst von diesem viel diskutierten deutschen Beispiel kann die These der beschäftigungsfördernden Wirkung flexibler Arbeitsmärkte nicht überzeugen. Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Philipp Heimberger zeigte 2020, dass die internationale Forschungsliteratur einen Zusammenhang zwischen hoher Arbeitslosigkeit und hohen Arbeitsschutzbestimmungen nicht nachweisen kann. Der deutsch-niederländische Ökonom Alfred Kleinknecht belegte 2013, dass die Arbeitslosigkeit in Ländern mit höherer Flexibilität des Arbeitsmarkts im Schnitt höher ist als in anderen Ländern.

Eine Arbeitsmarktpolitik, die auf billig und flexibel setzt, führt also mittel- und langfristig zu geringerer Produktivität, weniger Innovationen und damit zu geringerem Wohlstand.

Kleinknecht und der italienische Wirtschaftswissenschaftler Paolo Pini wiesen 2013 auf einen weiteren Zusammenhang hin: Eine höhere Flexibilität des Arbeitsmarkts führt zu einer geringeren gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität. Überraschen kann das nicht. Denn wenn Arbeit billig und flexibel ist, reduzieren Unternehmen ihre Investitionen in Maschinen und Weiterbildung. Die kosten schließlich Geld, das man sich sparen kann, wenn man Beschäftigte billig und flexibel einstellt – und feuert. Für Beschäftigte wiederum ist es in flexiblen Arbeitsmärkten vorteilhafter, Innovationen zurückzuhalten. Diese könnten sie schließlich ihren Job kosten. Und auch Loyalität und Vertrauen bleiben in unverbindlicheren Arbeitsverhältnissen unterentwickelt, was zu ineffektiver und unmenschlicher Überwachung führt.

Eine Arbeitsmarktpolitik, die auf billig und flexibel setzt, führt also mittel- und langfristig zu geringerer Produktivität, weniger Innovationen und damit zu geringerem Wohlstand. Statt immer wieder das Märchen der segensreichen Arbeitsmarktflexibilisierungen zu erzählen, ist eine stärkere Regulierung des Arbeitsmarktes nötig – mit dem Ziel, die Löhne und die Sicherheit der Arbeitsplätze zu erhöhen.