LesePeter August 2023
Auszeichnung für das Bilderbuch „Untenrum – und wie sagst du?“
Was bedeutet „Untenrum“, und wie kann man dazu noch sagen? Wie sieht das „Untenrum“ aus und wofür ist es da? Diese Fragen beantworten Los´ Eltern in einem einfühlsamen Dialog mit ihrem Kind – ein vielseitiges Bilderbuch, das mit Tabus bricht.
Dieses Sachbilderbuch steht im Zusammenhang mit der aufklärerischen Arbeit des sexualpädagogischen Kunstkollektivs Glitterclit. Gemeinsam mit der Illustratorin Yayo Kawamura geht es den Autor*innen darum, Kindern Zugang zu Wissen über den eigenen Körper zu verschaffen. Dabei gelingt es ihnen, das Thema mit einem umfangreichen Repertoire an differenzierten Begrifflichkeiten unbeschwert anzugehen und damit positiv zu werten.
Daher geht der LesePeter des Monats August 2023 an Noa Lovis Peifer, Linu Lätitia Blatt und Yayo Kawamura für das Bilderbuch „Untenrum – Und wie sagst du?“
Ein Buch, das viele Angebote macht
Lo lebt mit dem kleinen Geschwisterchen Mika und den Eltern zusammen und kommt eines Tages aus dem Kindergarten mit der Frage "Was bedeutet Untenrum?“ nach Hause. Der im Haushalt und mit Kinderbetreuung beschäftigte Vater ist erst ein wenig peinlich berührt. Solch eine Frage kann Erwachsene schon einmal ins Schlingern bringen und ist mit ganz unterschiedlichen Gefühlen besetzt. Bereits auf den ersten Seiten wird klar: Man nennt das Untenrum anders, je nachdem wie alt man ist und gegenüber wem man es benennt.
Neben vielen niedlichen und lustigen Wörtern werden aber auch die Begriffe der "Profisprache" eingeführt (z.B. Vulvina). Es wird erklärt, dass jede Vulva anders aussieht, dass es eine Klitoris gibt und dass Frauen dort – so wie Männer an der Eichel – am empfindlichsten sind, dass Frauen menstruieren, wie ein Baby entsteht und dass manche Menschen trans* und andere inter* sind und was das bedeutet. Dabei zeigt das Buch immer wieder, insbesondere im Bild, dass Nacktheit kein Grund zum Schämen ist, dass Körper sehr verschieden aussehen können und dass es nicht nur eine binäre Einteilung gibt.
Gleichermaßen macht es darauf aufmerksam, dass bspw. bei Doktorspielen Erwachsene nichts zu suchen haben und dass man es deutlich sagen muss, wenn man selbst oder jemand anderes etwas nicht mag. Dafür sowie für weitere Bezeichnungen wird auf wimmelbuchartigen Seiten mit gelbem Hintergrund eine Sammlung von Beispielen gegeben – oft zusammen mit einer persönlichen Frage an die Leserinnen und Leser (z. B. "Kennst du noch mehr Familienwörter?"). Die kritzeligen, grafischen Illustrationen, die am Computer koloriert wurden und neben viel Weißraum die Hauptfarbe Gelb nutzen, wirken modern, witzig und bieten parallel zum Text Erklärungen und Erweiterungen an.
Gut gemeint ist hier auch gut gemacht
Zum Thema geschlechtliche Vielfalt sind in den letzten Jahren vermehrt Kinderbücher erschienen, die mit guter Absicht für Vielfalt werben, an der einen oder anderen Stelle jedoch wieder Stereotype reproduzieren (im Sinne von „Rosa dürfen auch Jungen tragen“), Nicht-Binarität exotisieren oder aufzeigen, wie schwer es für Trans*-, Inter*- oder nicht binäre Personen im Alltag häufig ist, um mithilfe der Strategie der Perspektivenübernahme auf die Notwendigkeit eines sensiblen Umgangs hinzuweisen.
„Untenrum“ kommt ohne all diese Dinge aus und ist doch höchst sensibel und vielfältig, und das bereits für die Kleinsten. Dabei wird mit einigen Tabus gebrochen – so empfiehlt das Buch bspw. am Ende, dass man sich doch einmal mit Spiegel, Licht und Ruhe untenrum selbst genau betrachten soll. Eine sehr wichtige Botschaft, die abermals zeigt, dass der Intimbereich zum eigenen Körper dazugehört und man ihn wie alle anderen Körperteile ansehen und mögen kann und sollte.
Auch auf nicht-binäre Körper wird am Rande eingegangen. Besonders positiv ist, dass typische (binäre) Rollenverteilungen vermieden werden, auch wenn es dennoch um die "Kernfamilie" Vater, Mutter und zwei Kinder geht. Auch das Geschlecht von Mika und Lo, die auch einen geschlechtsneutralen Namen haben und für die keine Pronomen verwendet werden, bleibt bis zum Ende – auch im Bild – offen. Damit trägt das Buch zur Sensibilisierung, zur Selbstbestimmung, zur sexuellen und queeren Bildung bei und macht Kinder obendrein stark, sich gegen sexuellen Missbrauch zu schützen. Diese Form der Prävention findet man in (Bilder-)Büchern viel zu selten. Es zeigt Erziehenden zudem, dass Kinder unter sich sehr wohl mit ihren Untenrums – auch gemeinsam – spielen können, insofern kein*e Erwachsene*r dabei ist. Daher ist es insbesondere für pädagogische, aber auch für familiäre Kontexte für Kinder ab vier Jahren mit Nachdruck zu empfehlen – ein Buch, das in keinem Bücherregal fehlen sollte.
Die Autor*innen/Illustratorin
Noa Lovis Peifer und Linu Lätitia Blatt sind Künstler*innen und Sexualpädagog*innen aus Frankfurt am Main. Zusammen gründeten sie 2019 das sexualpädagogische Kunstkollektiv glitterclit. Sie arbeiten an der Schnittstelle zwischen Kunst, sexueller Bildung und Queerpolitik.
Yayo Kawamura wuchs in Tokyo auf und lebt seit dem Mauerfall in Berlin, wo sie Kommunikationsdesign studierte und noch heute lebt. Seit 2001 arbeitet YAYO erfolgreich als Bilderbuchkünstlerin und entwickelt darüber hinaus Papier- und Textilobjekte und Drucke. Sie hat bereits über 150 Titel für verschiedene Verlage illustriert, ihre Bücher wurden in 24 Sprachen übersetzt.
Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.
Peifer, Noa Lovis; Blatt, Linu Lätitia/ Kawamura, Yayo (Ill.) Untenrum: Und wie sagst du? Weinheim: Beltz & Gelberg, 2023, ISBN: 978-3-407-75711-1, 16 Euro, 38 Seiten, ab 4 Jahren