Zum Inhalt springen

LesePeter April 2023

Auszeichnung für das Bilderbuch „Paradise Sands“

Das Märchen von Versuchung und Selbstbestimmung, in dem ein kleines Mädchen sich und ihre Brüder aus dem Bann des Sehers befreien muss, bietet mit seinen fotorealistischen Panoramen und symbolträchtigen Inszenierungen vielfältige Lesarten an.

Durch Farbe und Komposition erzeugt Levi Pinfold in diesem bildgewaltigen Meisterwerk eine bedrückende Grundstimmung, die den Betrachtenden bereits deutlich macht, dass mittels der Erzählstrategien des Märchens grundlegende existenzielle Fragen zur Diskussion gestellt werden.

Die Qualität des Bilderbuches liegt dabei – neben der besonderen ästhetischen Umsetzung von Bild und Text – in der daraus resultierenden Polyvalenz, die durch zahlreiche Symbole und intermediale Zitate bekannter Kunstwerke zu einem herausfordernden Lektüreprozess anregt und für nahezu jedes Alter Anknüpfungspunkte bereithält.

Daher geht der LesePeter des Monats April 2023 an Levi Pinfold für das Bilderbuch „Paradise Sands – Die Geschichte einer Verzauberung“.

Die Verwandlung

„Weiße Rosen, sie lenken zu des Sehers Senken…“ – so beginnt nicht nur die Geschichte des Bilderbuches, sondern auch das Lied der Mutter, das den vier Geschwistern in ihrer Kindheit vorgesungen wurde und sie bald schicksalhaft in ihren Bann ziehen wird. Das Mädchen, das aus der Ich-Perspektive die Geschehnisse schildert, fährt zusammen mit ihren älteren Brüdern im Auto durch eine karge Steppenlandschaft, um ihre Mutter zu besuchen. Alle vier wirken erschöpft.

Die großformatigen fotorealistischen Bilder eröffnen atmosphärische Szenen mit spannenden Perspektiven – beeindruckende Panoramakulissen wechseln sich dabei mit detaillierten Totaleinstellungen ab.

Weiße Blumen am Wegrand, die als Geschenk mitgebracht werden sollen, lassen die Gruppe anhalten und führen sie zu einem imposanten Hotel, das wie eine uneinnehmbare Festung erscheint – eine Fata Morgana mitten in der steingrauen Einöde. Goldene Trinkbecken locken die durstigen Reisenden an. Hier lässt sich im Bild ein intermedialer Verweis auf die Gemäldereihe „Die Toteninsel“ (Arnold Böcklin) vermuten – einem berühmten Werk des Symbolismus, in dem Verfall und Untergang ebenso wie die Vieldeutigkeit von Symbolen im Mittelpunkt stehen. Er gibt die Schlagrichtung des vielschichtigen Bilderbuches vor. Durch den differenzierten Einsatz gedeckter Farben wird die bedrohliche Grundstimmung, die im gesamten Werk maßgebend ist, gekonnt verstärkt.

Während das Mädchen versucht, ihre Brüder zur Rückkehr zu bewegen, können diese den Versuchungen, die sich mittels der warnenden Verse des Liedes in kursiver Schrift nach und nach im Text offenbaren, nicht widerstehen. „Fernab von allem sind ihm wir verfallen.“, so endet schließlich das Lied. Das Vermächtnis des Sehers hat sich erfüllt und die Jungen verwandeln sich.

Die Versuchung

Das Bilderbuch besticht im Besonderen durch die symbolreichen mehrdeutigen Bilder des Künstlers. So lässt schon das Coverbild, welches die Begegnung zwischen Seher und Kind vorwegnimmt, verschiedene Interpretationen zu. Der Löwe verkörpert Stärke und Herrschaft. Übermächtig verfügt er über das Schicksal der Menschen, die er zu sich lockt, und platziert sie vorausschauend wie Figuren auf einem Schachbrett. Gleichsam erwächst seine Figur aus dem Schatten des Mädchens und wirkt so wie ein Teil von ihr selbst – besteht also doch die Chance der Selbstbestimmung?

Willensstark widersetzt sich das Kind der Versuchung, die in Anlehnung an Leonardo da Vincis Letztes Abendmahl bildlich inszeniert wird, und besteht die leidvolle Aufgabe drei Tage weder zu essen noch zu trinken. Allein um die Blumen für die Mutter am Leben zu halten, nutzt sie einen Kelch mit Wasser, weswegen der Seher zwar die Brüder freilässt, die nächste Generation an Töchtern und Söhnen aber erneut auf die Probe stellen wird. In einem dystopischen Sandsturm zerbröckelt die Festung und verschwindet in wirbelnden Wehen, während das Mädchen zum Auto rennt und im Inneren die Augen schließt. Die Hervorhebung der Typographie am Anfang („Es war trocken und staubig…“) und die wiederholte Großschreibung an dieser Stelle („und Bill saß am Steuer“) bilden einen Rahmen und lassen das dazwischen Geschehene wie eine Traumsequenz erscheinen.

Das Vermächtnis

In einer spärlich eingerichteten Klinik, die an eine psychiatrische Einrichtung erinnert, treffen die Geschwister schließlich auf die schwach wirkende Mutter. Als die Tochter die weißen Rosen aus der Senke schenkt, zeigt sich auf Narrations- und Bildebene die besondere Beziehung der beiden. Das in der Wand- und Bodengestaltung wiederkehrende Muster des zuvor noch wirbelnden Sandsturms unterstreicht diese Generationen übergreifende Verbindung. Das Mädchen erkennt Besorgnis und einen alten Schmerz im Blick der Mutter und scheint langsam die Last um das Vermächtnis zu verstehen, das nun auf sie übergeht.

In verschlüsselter Weise lässt das hier erzählte Märchen, das sich der Motive der Verführung, Verzauberung und Aufopferung bedient (ähnlich auch bei „Rotkäppchen“, „Brüderchen und Schwesterchen“ oder „Die sieben Raben“), vielfältige Deutungen und Lesarten zu. Zwischen Vernunft und Versuchung können die Leser:innen anhand der Figuren einem leidvollen Reifungsprozess folgen, der vor einem explizit familiären Hintergrund auch das Erbe traumatischer Erfahrungen thematisiert. Das bildgewaltige Buch spricht als All-Age-Literatur Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen an, indem Symbole gedeutet werden können und Leerstellen zum Nachdenken anregen. Diese Unabschließbarkeit des Rezeptionsprozesses fordert zum Zurückblättern und Wiederlesen auf.

Der Autor & Illustrator

Levi Pinfold beendete 2006 sein Grafikstudium in England und lebt inzwischen mit seiner Familie in Australien. Für sein erstes Bilderbuch „The Django“ wurde er in Großbritannien als bester Newcomer-Illustrator ausgezeichnet. Seine Inspiration für „Paradise Sands“ boten ihm die palmengesäumten Straßen mit den wunderschönen Hotels an der Ostküste Australiens, die nach einiger Zeit ein klaustrophobisches Gefühl bei ihm hervorriefen: „I’d start to feel as if reality were somewhere else, as if everything around me was conspiring to make me forget my everyday life. Which, of course, it was. With a price tag.“

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Levi Pinfold: Paradise Sands, Übersetzung aus dem Englischen: Nicola T. Stuart, Berlin: Jacoby & Stuart, 2022, ISBN: 978-3-96428-156-2, 40 Seiten, 24 Euro, ab 8 Jahren