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Filmkritik

Alles ganz normal

In „Die Kinder der Utopie“ treffen sich sechs junge Erwachsene wieder, die als Kinder zusammen eine Grundschule besuchten. Das Besondere dabei: Drei von ihnen sind behindert, drei nicht. Ein Film über gelungene schulische Inklusion.

Luca fotografiert gerne und studiert Umweltwissenschaften. Sie wirkt ein wenig verloren, wie sie da auf einem Hausdach in Berlin steht und von sich erzählt. Dass sie lange überlegt habe, ob sie die Fotografie zum Beruf machen soll. Aber dann aus Angst, sich das Hobby zu verderben, davor zurückschreckte. So beginnt Hubertus Siegerts Film „Die Kinder der Utopie“ (Deutschland 2019), der am 15. Mai an einem Kampagnentag in ganz Deutschland zu sehen sein wird.

Kurz nach der Szene auf dem Hausdach kommt Dennis bei Luca vorbei. Dennis scheint ziemlich zufrieden zu sein. Er hat auch allen Grund dazu, hat er doch bei einem Musical-Wettbewerb gerade den ersten Preis gewonnen – erste Engagements winken.

Dennis ist gerade ganz oben. Das wird auch im Gespräch mit Christian klar, der nach seinem noch nicht sehr lange zurückliegenden Coming-out auf der Suche nach Sinn und Bestimmung ist. Dennis‘ Erfolge scheinen Christian noch ein wenig ratloser zu machen – aber nicht neidisch. Christian ist das wohl gewohnt. Das wird deutlich, als sich die beiden zusammen einen alten Dokumentarfilm aus dem Jahr 2005 anschauen: „Klassenleben“, auch der von Hubertus Siegert.

Der Film zeigt die Praxis der Inklusion in einer Grundschulklasse an der Flämingschule in Berlin-Friedenau, die schon in den 1970er-Jahren behinderte Kinder in den Klassenverband integrierte. Auch damals war Dennis der Star, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Christian dagegen weinte nach einer harschen Zurechtweisung der Lehrerin vor laufender Kamera.

Gelungene Inklusion

Christian, der gerade sein VWL-Studium abgebrochen hat und noch nicht weiß, was er als nächstes tun soll, wirkt, als habe ihm das Leben schon einige Schürfwunden zugefügt. Er bildet zusammen mit Luca und Dennis das Trio der nicht behinderten einstigen Grundschulkinder. Als nächstes trifft er Marvin, der gerade zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft gefunden hat, in einer Behindertenwerkstatt arbeitet und – außer mit der Höhe seines Lohns – ganz zufrieden wirkt. Marvin trifft auf Johanna, die Altenpflegerin werden möchte, und Johanna wiederum begegnet Natalie, die auf eine Festanstellung in einer Großküche hofft. Später besuchen alle zusammen das Grab ihrer ehemaligen Mitschülerin Lena, die bereits verstorben ist.

Die sechs gehen ganz selbstverständlich miteinander um, obwohl einige von ihnen sich seit zwölf Jahren, seit dem Ende der Grundschule, nicht gesehen haben. Der Regisseur entlockt einigen seiner Protagonisten Sätze zum Thema Inklusion, etwa Marvin, der sagt: Je früher man mit der Inklusion anfange, „desto leichter ist es, Menschen mit Behinderung zu respektieren!“ Oder Natalie, für die „die Flämingschule die allerschönste Zeit in meinem Leben“ war. Oder Dennis, für den „Inklusion schlicht und einfach Akzeptanz und Respekt“ ist.

Die Zitate fallen nebenbei, sind lose in den Film eingestreut, der offenbar gar kein Film über Inklusion sein will, sondern lediglich zum Ziel hat, zwölf Jahre später bei den sechs kindlichen Protagonisten des Films des Jahres 2005 vorbeizuschauen und zu sehen, wie es ihnen heute geht. Die Frage, welche Botschaft der Film hat, wird in der ersten Hälfte der 82 Minuten nicht beantwortet. „Die Kinder der Utopie“ will ganz offensichtlich nicht viel. Und es ist auch gar nicht uninteressant, diese Momentaufnahme aus dem Leben von sechs jungen Erwachsenen zu sehen, die alle ihren Weg noch nicht gefunden haben und das sehr offen aussprechen.

Drei haben eine Einschränkung, wenn man nicht Behinderung sagen will. Aber das ist Nebensache. Insofern ist der Film selbst ein gutes Beispiel für gelungene Inklusion: Er thematisiert die Einschränkung seiner Protagonisten zu keiner Zeit; nimmt sie eben als selbstverständlich. Alles ganz normal.