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Privatschulen konnte ich noch nie leiden. Schon nach dem Referendariat, zum ersten Mal arbeitslos, da keine Stelle im Staatsdienst für mich vakant war, wählte ich einen Job bei einer Zeitung und nicht einen Job in einer übrigens sehr bekannten Hamburger Privatschule. Bereits das Ambiente - sehr gut genährter Schulleiter in smartem Outfit mit einem äußerst autokratischen Habitus hinter luxuriösem Schreibtisch aus Mahagoni - wirkte abschreckend. Das vorgeschlagene Gehalt warf die Frage auf, warum ich eigentlich studiert und ein Referendariat absolviert hatte. Die Regeln der Schule ließen mich darüber grübeln, ob Privatschulen schon von der Einführung der Demokratie gehört hatten.
Das erste Mal wurde ich meiner Überzeugung aus pekuniären Gründen in Paris untreu, denn Frankreich steckte in einer Wirtschaftskrise und die deutschen Migranten bekamen eine Ahnung von der Situation in den USA 1932. Meine tiefe Aversion gegen Etablissements dieser Art wurde allerdings umgehend bestätigt. Der Chef, ein fetter Marokkaner entpuppte sich als sexistisch, geizig, geldgierig, hinterlistig und äußerst intrigant. Dank einer geschickten Verweigerungstaktik konnte ich mich nach fünf Monaten aus diesem Schlamassel unbeschadet retten und verließ die Schule, fröhlich und erleichtert.
Ausgerechnet Ägypten?
Was also hat mich umgetrieben, ausgerechnet in diesem Land Ägypten einen Job an einer Privatschule zu akzeptieren? In einem Land, in dem unverdrossen gefoltert wurde und Menschen- und Bürgerrechte praktisch keine Bedeutung haben? In einem Land mit welchem politischen System genau: dominiert von einer autoritären Herrschaft, wie die Medien erzählten? Oder war das Land doch durch eine Diktatur beherrscht? Andererseits: Angesichts des sich ausbreitenden Fundamentalismus konnte man eventuell auch autoritär - freundlich werden? War das System Mubarak in diesem Sinne nicht eigentlich positiv? Da die deutschen Medien sich nicht in der politischen Beurteilung dieses Landes einig wurden, konnte ich vor meiner Abreise nach Ägypten auch keine Antwort finden.
Zurückblickend würde ich sagen, dass ein Gemisch aus verschiedenen Gründen die Ursache meines Einverständnisses war: Nicht –Sehen- Wollen („Kann die ZfA wirklich eine so schlechte Schule anbieten??“), Abenteuerlust, der Wunsch, auch diese Herausforderung meistern zu können, ein geschmeicheltes Ego („Sie sind die Einzige, der wir zutrauen, dass Sie sich gegen diesen Manager der Schule und die konservativen Muslime durchsetzen können.“, - wenn das nicht schmeichelt??), Neues lernen, (fachlich und interkulturell). Der steuerfreie Zuschlag wirkte natürlich auch, die zunehmenden Studienkosten unseres Kindes nach dem Bachelor im Verhältnis zu der letzten Gehaltserhöhung aus dem Jahre 1991 (die Inflationsausgleichungen kann ich nicht als Gehaltserhöhung ansehen) überzeugten mich, nach vier Wochen Bedenkzeit „Ja“ zu sagen.
Schon der 22. August 2009, der Tag des Aufbruchs meines Mannes und mir in Hamburg, überstieg unsere schlimmsten Befürchtungen. Hätten wir den Zeichen zugehört, wären wir gar nicht erst losgefahren. Morgens hatte der Wecker nicht geklingelt. Dank eines cleveren Taxifahrers hetzten wir im allerletzten Moment zur Rollbahn und erreichten noch den Flieger. Für die Bücher im Werte von 800 €, die ich für den neuen Job und das Team gekauft hatte, musste ich 600 € zusätzliche Frachtkosten bezahlen. In Zürich versagte der Motor des Anschlussfliegers, wir waren erleichtert. Leider kamen wir dennoch an. Und die Erfahrungen des ersten Tages waren so, dass ich verzweifelt mit mir haderte, warum ich mich auf diesen Job eingelassen hatte. Ich gehe hier nicht in die Details. Nur so viel: Selten habe ich so wenig Gastfreundschaft und Herzlichkeit, so wenig Respekt und Präsenz von Kultur und Erziehung gesehen wie in diesen ersten Tagen. Die Solidarität einer deutschen Kollegin half: Sie gewährte Asyl, gab wertvolle Tipps, um Distanz aufzubauen und einen eigenen Privatbereich so schnell wie möglich herbeizuzaubern. Und so war die Suche nach einem Haus die erste Aufgabe, die zu bewältigen war.
Wohnungssuche
Unsere Analyse der Stadt Alexandria hatte ergeben, dass diese völlig degradiert war. Das soziale Elend war unübersehbar, der Lärm und der unvorstellbare Dreck ließen an den bevorstehenden Ausbruch einer mittelalterlichen Pest denken; unsere Schlussfolgerung war dementsprechend: Wir wollten eine Unterkunft, die weit ab von all diesen Problemen lag, dennoch inmitten der üblichen Behausungen der muslimischen Bevölkerung; und eine Unterkunft, die – falls eine wie auch immer geartete soziale Bewegung ausbräche – nicht in einem Knotenpunkt von christlichen Ausländern lag, denn wir rechneten mit Übergriffen auf Christen. Diese Entscheidung hat sich später als goldrichtig erwiesen.
Unser Haus war ursprünglich der Besitz des im Jahre 1992 von Moslem Brothers ermordeten Journalisten Foda gewesen (vgl. Spiegel u.a.). Wir nahmen dies als Zeichen. Es schützte uns mit einer großen, aus Büschen und Blumen, seit fünfzig Jahren gewachsenen Mauer vor der Außenwelt, - und es wurde unser elaboriertes Gefängnis für einige Monate. Ich liebte dieses Haus, denn ich hatte das Gefühl, es litt genauso wie wir. Wir setzten es instand und hegten insgeheim die Hoffnung, dass wir hier zumindest unsere innere Ruhe aufrechterhalten könnten. Denn die uns umgebende akustische Kulisse war mehr als belastend. Fünf Mal am Tag riefen die vier Muezzine lautstark und lang anhaltend von den umliegenden Minaretten zum Gebet. Sogar durch die Ohrstöpsel drang der Lärm morgens um halb vier durch.
Der Schlaf war unterbrochen. Tagsüber war kein Gespräch mehr möglich, kein Telefonat, die Musik oder der Fernseher konnten getrost ausgeschaltet werden. Die Muezzine hätten ihre Lautsprecher in andere Richtungen stellen oder den Ton leiser machen können. Wie oft wir zu ihnen gegangen sind und um Gnade baten, erinnere ich nicht. Es war sinnlos. In dieser Situation habe ich verstanden, was Gehirnwäsche bedeutet. Den Schlaf der Menschen stören – ist das nicht ein Foltermittel? Selbstverständlich waren nicht nur wir im Visier der Muezzine, sondern eigentlich das ganze Land, vor allem koptische Distrikte. Koptische Mitbürger wiesen vor der Revolte darauf hin, dass diese Lärmbelästigung durch die Mubarak Regierung verboten sei. Aber die Einhaltung von Gesetzen ist in diesem Land ohnehin etwas Seltsames. Man hört von ihrer Existenz, aber keiner hält sich daran. Letztlich entscheidet das Kräfteverhältnis in einem Distrikt.
Am Freitag Mittag, der Stunde der größten Lärmbelästigung, trafen wir uns manchmal mit koptischen Freunden im Haus und drehten europäische Musik voll auf: Pavarotti, die Callas, sie hat ja so eine wunderbar durchdringende Stimme, die Beatles, - auch sehr geeignet, - ja sogar Khaled mit seiner „Aicha“, dem wunderbaren Liebeslied. Bei den arabisch gesungenen Liedteilen hörten wir die Bawab, die mausearmen Türwächter draußen auf dem Weg mitsingen. Die Bawab, ich vermute, viele von ihnen kamen direkt aus der Wüste, hatten mit den hysterischen Muezzinen nichts oder wenig zu tun. Ihr Problem war eher satt zu werden und die Familie, die Kinder zu ernähren.
Wir hatten das Haus zuvor bei unserem Einzug zwei Tage lang säubern müssen. Die zum täglichen Leben notwendigen Haushaltsgeräte mussten wir gänzlich neu anschaffen, da diese entweder nicht vorhanden oder funktionsunfähig waren. Das bedeutete: Großeinkauf. Der Container mit unserem Hab und Gut traf Anfang Oktober ein, nachdem wir dieses nur durch Zahlung hoher Geldsummen (einem saftigen Bakschisch) an das korrupte Hafenpersonal vor dem Untergang oder Diebstahl hatten retten können. Jedwede Form von eigentlich selbstverständlicher behördlicher Dienstleistung lässt sich in Alexandria nur durch Bestechung erzielen.
Die Schule
Ich hatte mir vorgenommen, meinen Ersteindruck noch einmal beiseitezuschieben und so tun, als sei alles in Ordnung. Den ersten optischen Eindruck, unangenehme Klassenräume mit wackligen Kindergartentischen und –stühlen auf Steinfußboden, versuchte ich zu verdrängen und als neue interkulturelle Erfahrung abzubuchen. Im Laufe der folgenden Wochen erschienen die Lehrerinnen, mit denen ich zusammenarbeiten sollte. Zwei Europäerinnen, und eine langjährige Mitarbeiterin, die aus Saudi Arabien zurückkam. Als die ägyptische Kollegin aus der zweiten Schule unseres Departments von dieser unerwarteten Rückkehr hörte, brach sie in Tränen aus. Es waren keine Freudentränen. Als ich die besagte saudische Dame das erste Mal sah, hatte auch ich Lust, mein Taschentuch zu zücken. Zur Erklärung unserer kollektiven Verzweiflung: Sie kam nicht nur aus Saudi Arabien, sondern sie vertrat es. Sie trug einen schwarzen Niqab und einen Gesichtsausdruck, der aus der mittelalterlichen Inquisitionsära oder aus den Trainingslagern der Brigaden der saudiarabischen Sittenpolizei hätte stammen können. Meiner ägyptischen Kollegin gab sie den Judaskuss, mich begrüßte sie mit den Worten: „Sie sind also die Neue ...Ihren Vorgänger haben wir nach einem Jahr nach Hause geschickt!“ Immerhin offene Worte. Die Kampfansage war deutlich.
Deutsch als Fremdkörper
Die Stammschule (denn zu meinem Aufgabenfeld gehörten plötzlich weitere private Schulen, alle unter der Verwaltung desselben Managers stehend) und der Deutschunterricht lässt sich so beschreiben: Das Deutschdepartment ist ein Fremdkörper innerhalb der Privatschule, die auf dem nationalen Erziehungswesen basiert. Ziel dieses Etablissements ist das ägyptische Abitur. Die Eltern schicken ihre Kinder wegen des Deutschunterrichts an diese Schule, aber eigentlich spielt das Department sonst gar keine Rolle. Wann immer es um Außenwirkung ging, wurde das Department unter den Teppich gekehrt. Es fungiert eher als Akquisitionsmittel. Wäre es nicht mehr da, könnten die Eltern ihre Kinder auch getrost an eine andere der zahlreichen Privatschulen schicken. Vielleicht an die „School for Prince charming and Princess“? Oder an die „Elite School“? Oder an die „The best for your child and my pocket money school“?
Selten sah ich eine Stadt, in der Privatschulen wie Pilze aus dem Boden schießen. Und die Namen, die sie tragen, verursachen bei den denkenden Ägyptern eher einen Lachanfall und können nicht ernst genommen werden. Dass diese schlechten Privatschulen trotzdem ständig neue Schüler bekommen, liegt an der Misere im staatlichen Sektor. Achtzig Kinder in einem Klassenraum ohne ausreichende Tische und Stühle: Wer soll da lernen? Wer soll da unterrichten? Der Lehrer, mit 500 EP pro Monat völlig unterbezahlt, schreitet also des Morgens in die Klasse und sein vornehmliches Ziel ist es, möglichst viele Privatstunden zu Hause zu einem teuren Preis zu verkaufen. Unterricht im eigentlichen Sinne gibt es nicht. So erklärt sich die hohe Quote von Analphabeten (80 % Frauen, 60 % der Männer, aber die Zahlen schwanken und das ist nicht erstaunlich, denn wie kann überhaupt gezählt werden in diesem Land?).
„Meine“ Schule kostet 1500 EP pro Semester im Schnitt (ein „normaler, armer“ Ägypter hat ca. 15 EP pro Tag). Viele Familien haben drei- vier Kinder, die alle auf diese Schule gehen. In diesem Fall gibt es einen Rabatt. Dazu kommen noch die Kosten für die Schuluniform und die Schuhe und Strümpfe. Inwiefern der Chefmanager auch hier sein verdienendes Händchen im Spiel hat, konnte ich nicht herausfinden. In Paris war das der Fall. Das Geld floss pro Uniform in die Privatkasse des „Schulleiters“. Die Lehrerinnenkinder sind auch auf der Schule. In diesem Fall gibt es einen Deal zwischen Herabsetzung des Lehrergehalts (ist ohnehin sehr gering) und den Schulkosten. Die unterrichtende Mutter ist in der Falle. Kritik kann sie nicht äußern. Das ginge auch ohnehin nicht, denn es gibt keinerlei vorgesehene Struktur oder Instanz, in der sie ihre Kritik vortragen könnte. Vorschläge und Bitten wurden dem Chefmanager in unterwürfiger Haltung vorsichtig oder kokett (Frauenstrategie) vorgetragen, wenn Zeugen vorher hinter der vorgehaltenen Hand bestätigt hatten, dass er „guter Laune“ sei. Da das selten der Fall war, kann man sich vorstellen, wie oft die Untergebenen es wagten, persönliche Anliegen vorzubringen.
Appell morgens um 7.30 Uhr bis 7.50 Uhr mit ca. 800 Schülern. Gymnastik, Koran Lesung in quäkender Stimme, manchmal Vorträge aus der laufenden Unterrichtsarbeit, die keiner akustisch verstand, dann Nationalhymnen Gesang und Fahnenappell in militärischer Attitude. Der Hass der (älteren) Schüler auf das Schulsystem bezog sich vor allem auf diese Zeremonie. Nach dem Aufstand verweigerten sich mehr und mehr Schüler bei der Nationalhymne und flüsterten, warum sie noch „bladi – bladi“ (my motherland) singen sollten, da das Land nichts für die Jugend tue und dem Untergang geweiht sei. Nebenbei sei erwähnt, dass die Schule mehrheitlich Muslime, aber auch Kopten als Schüler hat. Letztere hatten ein kleines Zimmer, in dem sie sich hin und wieder zum Religionsunterricht trafen. Das ist doch ein Zeichen wahrer Toleranz, oder?
Unterrichtsarbeit
Dann der Unterricht für 600 Schüler, die zu unserem Department der Stammschule gehören. In den unteren Klassen mussten bis zu 35 schreiende Kinder inmitten tosender Geräuschkulissen aus den anderen Klassenräumen bedient werden. Frontalunterricht mit ständig schreiender Stimme in hohen Tönen war die Lösung vieler Lehrender. Der Geräuschpegel entschied über das Urteil, ob ein Lehrer gut oder schlecht war. Zu hoher Geräuschpegel: Alles zog die Stirn kraus.
In diese Atmosphäre Projektarbeit und die Idee selbstständigen Arbeitens einzubringen, ist Knochenarbeit. Den älteren Schülern war der Deutschunterricht verleidet, weil die Eltern die Kinder in diesen Unterricht gedrängt hatten, weil Jahre lang frontal unterrichtet worden war, weil jede Stunde eine neue Seite im Lehrbuch erarbeitet wurde, weil nichts Kreatives im Unterricht geschah oder gefordert wurde. Und wenn der Unterricht Themen aufgriff, die sich mit den Problemen Pubertierender auseinandersetzte, war in der Regel ein Gespräch mit dem Chefmanager angesagt. Irgendjemand hatte sich wieder bei ihm beschwert. Mal eine Mutter, mal ein Schüler oder unsere aufmerksame Kollegin aus Saudi Arabien, die meinte, dem Chefmanager besondere Informationsdienste leisten zu müssen. Eine junge Kollegin hatte eine Karikatur eines nackten Babys (ohne Geschlechtsmerkmale) zum Training der Lexik in den Unterricht eingebracht und wurde sofort von – vermutlich salafistischen - Eltern gemaßregelt. Die Zeichnung sei obszön und im Islam sei es verboten, Babys nackt zu zeigen.
Jeden Monat mussten „exams“ (bei uns würde man von einem Test sprechen) geschrieben werden, deren Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung unendlich viel Zeit kosteten und wenig Nutzen bringen. Statt endlich pädagogische Konferenzen zu initiieren, eine gemeinsame Planung durchzusetzen, Klassenkonferenzen zu organisieren, schwierigen Kindern psychologisch zu helfen, wurde der größte Teil der Arbeitszeit mit wirkungslosen Ritualen vertrödelt. Allerdings haben diese Rituale einen Sinn: Sie befriedigen die zahlenden Eltern, die die Noten ihrer Sprösslinge anschauen können und glauben, alles Mögliche getan zu haben.
Im ersten Halbjahr verloren wir Unterrichtszeit, weil die Regierung befürchtete, es werde eine Epidemie ausbrechen und die Kinder zu Hause blieben. Als wir dann wieder unterrichteten, war es sehr kalt und feucht, und es wurden, um die „schlechte“ Luft zu vertreiben, alle Fenster gleichzeitig geöffnet, sodass viele nun wirklich erkrankten.