In dem Buch „Politische Bildung in reaktionären Zeiten. Plädoyer für eine standhafte Schule“ liefern Rico Behrens, Anja Besand und Stefan Breuer tiefe Einblick in die Schwierigkeiten, die sich im Umgang mit menschenfeindlichen Herausforderungen in der Schule ergeben. An 32 realen Fällen werden Handlungsmöglichkeiten dargestellt.
Im Kapitel „Stolpersteine – oder was Sie unbedingt vermeiden sollten“ werden Reaktionen gezeigt, die man vermeiden sollte.
- Stolperstein 1: Indifferent bleiben, sich an Normalisierung beteiligen
Grundsätzlich ist das Ignorieren herausfordernder Situationen die schlechteste Möglichkeit, auf menschenverachtende Aussagen und Verhalten zu reagieren. Es symbolisiert den übrigen beteiligten Personen, dass man gewillt ist, antidemokratische Interventionen zu überhören oder sie zu bagatellisieren. In der politikdidaktischen Literatur wird diese Herausforderung auch als „Indifferenzfalle“ beschrieben (vgl. Besand 2019). Konkret heißt das: In jedem Situationskontext sollte die klare demokratisch-menschenrechtsorientierte Haltung von Lehrer:innen erkennbar sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn extrem rechte Akteure menschenverachtende oder geschichtsrevisionistische Äußerungen zu normalisieren versuchen, um damit „Grenzen des Sagbaren“ zu verschieben. Daran dürfen sich Lehrkräfte in Situationen politischer Bildung keinesfalls beteiligen.
- Stolperstein 2: Opfer/Betroffene übersehen
Die Konjunktur rechtspopulistischer Ideen hat die politische Bildung in den letzten Jahren vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Das Selbstbewusstsein und die emotionale Wucht, mit der breite Bevölkerungsgruppen quasi über Nacht ihre politische Frustration sichtbar gemacht haben, hat nicht nur in der Politik vielfältige neue Formate für Dialogveranstaltungen und Bürgergespräche entstehen lassen. Weniger in den Blick geraten sind in diesem Zusammenhang die Opfer rassistischer, sexistischer, homophober oder menschenverachtender Anfeindungen. Ähnliches gilt für schulische Kontexte. Politische Bildung konzentriert sich stark auf Prävention oder Reaktion (bzgl. extremistischer Interventionen). Es ist deshalb unser dringender Rat, Betroffenenperspektiven bei der Reflexion pädagogischer Strategien immer mit in den Blick zu nehmen.
In diesem Sinne ist es wichtig, zu betonen, dass der Beutelsbacher Konsens nicht mit politischer Neutralität gleichzusetzen ist. Vielmehr ist er im Sinne des Grundgesetztes wertgebunden.
- Stolperstein 3: Vermeintliche Neutralität
In der politischen Bildung existiert mit dem Beutelsbacher Konsens eine gut verankerte und klar konturierte Vorstellung davon, wie politische Indoktrination zu vermeiden ist, Kontroversität gewährleistet werden kann und Schülerorientierung verfolgt wird. Leider ergeben sich in diesem Zusammenhang aber auch Missverständnisse. In diesem Sinne ist es wichtig, zu betonen, dass der Beutelsbacher Konsens nicht mit politischer Neutralität gleichzusetzen ist. Vielmehr ist er im Sinne des Grundgesetztes wertgebunden. Er mahnt dazu, demokratische Werte wie Pluralismus und Menschenrechte in den Mittelpunkt von Bildungsprozessen zu stellen. Antipluralistische, menschenfeindliche (z. B. rassistische) Positionen müssen und dürfen deshalb nicht als gleichberechtigte Kontroversen behandelt werden.
- Stolperstein 4: Überreagieren
Handeln ist wichtig! Indifferenz muss vermieden werden! Das ist eine Message, die wir in diesem Buch immer wieder betonen. Gleichzeitig ist es allerdings auch wichtig, nicht überzureagieren und damit Provokationen nicht auf den Leim zu gehen. Das kann leicht passieren, wenn emotionale Herausforderungen auftauchen, Äußerungen oder ein bestimmtes Verhalten vielleicht sogar geplant eingebracht werden. Wichtig bleibt es, Grenzen zu setzen und auf der anderen Seite eine gewisse professionelle „Coolness“ zu suchen. Auch ein Einordnen in „Freund-Feind“-Kategorien ist in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. In pädagogischen Situationen bleibt es wichtig, wo möglich den Kontakt zu Menschen zu halten.
- Stolperstein 5: Sich an Othering beteiligen
Wir alle sind in Prozessen der Fremdmachung (Othering) involviert, darum gilt es, sich selbst stets kritisch zu reflektieren. Das Konzept „Othering“ entstand im Kontext der Postcolonial Studies. Der Begriff wird verwendet, um das Fortwirken kolonialer Verhältnisse in der heutigen Gesellschaft zu beschreiben. Im Deutschen wird der Begriff als „Different-Machung“ oder „Fremd-Machung“ übersetzt. Othering meint zunächst einmal die Konstruktion des bzw. der Anderen und geht einher mit einer asymmetrischen und hierarchischen Differenzierung, indem Menschen als „Andere“ markiert und von einem „Wir“ unterschieden werden. Othering bezieht sich dabei auf bestimmte Merkmale wie race/Ethnizität/Nationalität, gender/Geschlecht/sexuelle Orientierung/ geschlechtliches Empfinden, Klasse, Religionszugehörigkeit oder Behinderung.
Prozesse des Othering zeigen sich offen oder verdeckt und haben sowohl individuelle als auch strukturelle Konsequenzen durch die Zuweisung von Minderwertigkeit und Überlegenheit.
Prozesse des Othering zeigen sich offen oder verdeckt und haben sowohl individuelle als auch strukturelle Konsequenzen durch die Zuweisung von Minderwertigkeit und Überlegenheit. Othering wird auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar: in struktureller Ausbeutung und Benachteiligung, in Zeichen oder Objekten, in Witzen oder bestimmten Begriffen, aber auch in Vorannahmen oder Vorurteilen gegenüber bestimmten Personen oder Personengruppen.
- Stolperstein 6: Umfassende Verbote
Herausforderungen, schulische Leitbilder und ein institutionelles Selbst- bzw. Leitbildverständnis sind wichtig. Sie können in Konfliktfällen Orientierung bieten und helfen, zu abgestimmten Handlungsweisen zu kommen. Sie sollten aber nicht so eng formuliert werden, dass Einzelfallentscheidungen nicht mehr möglich sind. In diesem Sinne raten wir beispielsweise davon ab, die Kommunikation politischer Ziele oder Slogans über Kleidungsstücke umfassend zu verbieten. Kleidung, Frisuren und Habitus drücken immer auch Haltungen aus. Sie können nicht aus Bildungsinstitutionen herausgehalten werden. Schule und andere Bildungseinrichtungen sollen keine unpolitischen Orte sein, ABER pauschalisierte Abwertungskonstruktionen und menschenfeindliche Aussagen – auch in symbolischen Formen – sind zu vermeiden. Ein Peace-Sticker ist in diesem Sinne eben etwas anderes als ein geschichtsrevisionistischer Spruch auf einem T-Shirt.
- Stolperstein 7: „Infektionsängste“
Eine immer wiederkehrende Frage in der Auseinandersetzung mit extremistischen Erscheinungen betrifft die Sorge um ein „Bekanntmachen“ der entsprechenden Positionen. So zweifeln Lehrkräfte, ob sie Beobachtungen überhaupt proaktiv ansprechen sollen, weil sie fürchten, Schüler:innen in unnötiger Weise erst auf die entsprechenden Inhalte aufmerksam zu machen. Zum anderen verbirgt sich hierin auch die Hoffnung, die Mehrzahl der Schüler:innen hätten von dem als problematisch empfundenen Sachverhalt noch nichts mitbekommen. Erfahrungsgemäß sind sowohl diese Angst als auch die Hoffnungen der Lehrkräfte in diesem Zusammenhang übertrieben. Schüler:innen sind oft lange vor ihren Lehrkräften über die entsprechenden „Probleme“ oder Phänomene im Bilde und verfallen ihnen deshalb nicht umstandslos. Gerade die Entwicklungen im Web 2.0 und den digitalen Medien machen hier eher einen problemorientierten Umgang nötig.
- Stolperstein 8: Legitimationsfalle
Insbesondere in Zeiten, in denen die liberale Demokratie vor Herausforderungen steht, gerät die politische Bildung oft schnell in die Defensive und versteigt sich in der Legitimation bestehender Strukturen und Verfahren. Lehrkräfte könnten sich in diesem Sinne angesichts rechtspopulistischer Entwicklungen, einer umfassenden Medien- und Expert:innenkritik und einer nicht unerheblichen Europaskepsis (um nur einige wenige Aspekte zu nennen) genötigt sehen, in ihrem Unterricht die Leistungsfähigkeit des politischen Systems zu betonen, öffentlich-rechtliche Medien zu preisen und ein Hohelied über Europa anzustimmen. Legitimation ist aber nicht die Aufgabe politischer Bildung in der Demokratie. Sie darf deshalb nie im Bestehenden verhaftet bleiben, sondern muss immer offen sein, sich neuen gesellschaftlichen Herausforderungen (wertgebunden) zu stellen und nach neuen Lösungen zu suchen.
- Stolperstein 9: Legalismus
Mit Legalismus beschreiben wir Argumentationsweisen, in denen Lehrkräfte oder pädagogisches Fachpersonal sich nur dann zum Handeln aufgefordert sieht, wenn im juristischen Sinne fassbare Rechtsverstöße sichtbar werden.
In der kollegialen Beratung des Falls Nr. 22, in dem ein Schüler ein Bild des Rechtsterroristen Uwe Mundlos als persönliches Profilbild seines Facebook-Profils ausgewählt hat, sind wir wiederholt der Ansicht begegnet, dass man da nichts machen könne, schließlich sei das Bild von Mundlos nicht verboten. Wir halten diese Argumentationsweise für unangemessen. In Bildungsinstitutionen lassen sich Handlungsimpulse nicht erst durch Rechtsverstöße legitimieren. Legalistische Sichtweisen helfen in diesem Sinne nicht weiter.
- Stolperstein 10: Alles durch Unterricht lösen wollen
Für überaus verbreitet – gleichzeitig aber wenig hilfreich halten wir auch die Vorstellung, dass rassistische, sexistische oder o .ä. Äußerungen in pädagogischen Situationen grundsätzlich nur durch Unterricht zu bearbeiten sind. An solche Vorstellungen knüpfen dann häufig geäußerte Sachzwänge an, man könne nach einem bestimmten Zwischenfall im schulischen Kontext doch nicht regelmäßig den Stundenplan umwerfen, man habe keine Zeit, all das zu thematisieren oder das betreffe schließlich nicht die ganze Klasse. Hier wird nicht nur der Ort „Unterricht“ überlastet. Er dient gleichzeitig manchmal auch als „Entlastungsstrategie“. Pädagogisches Handeln im schulischen Kontext muss demgegenüber breiter gefasst werden.
In diesem Sinne sind Einzelgespräche mit Schüler:innen sowie weitergehende Bearbeitungssettings möglich und sinnvoll. Auch sie gehören in den Instrumentenkasten von Lehrkräften und sind nicht exklusiv an die Schulsozialarbeiter:innen zu delegieren.
Lehrkräfte neigen nicht selten zu einer Kultur von Einzelkämpfer:innen und suchen in der Auseinandersetzung mit herausfordernden Fällen oft erst spät kollegialen Beistand.
- Stolperstein 11: Sich vereinzeln lassen/Selbstüberforderung
Lehrkräfte neigen nicht selten zu einer Kultur von Einzelkämpfer:innen und suchen in der Auseinandersetzung mit herausfordernden Fällen oft erst spät kollegialen Beistand. Dies ist aus zwei Perspektiven problematisch. Zum einen müssen Auseinandersetzungen mit diesen Herausforderungen oft systemisch bearbeitet werden. Immer dann, wenn sie nicht „nur“ von einzelnen Akteuren ausgehen, steigt die Komplexität erheblich. Den Fall „Gedenkstättenbesuch – Kraniche für Grab Nr. 88“ (Fall 6), in dem sich ein geschlossener Klassenverband zu einem den Nationalsozialismus verharmlosenden Verhalten entschließt, wird eine einzelne Lehrkraft nicht allein lösen können. Zum anderen sind Netzwerke zwischen Kolleg:innen, aber auch zu Profis der außerschulischen Präventionsarbeit besonders in den Fällen wichtig, in denen pädagogisches Personal zum Objekt politischer Angriffe wird. In allen Bundesländern gibt es mobile schulische Beratung oder demokratiepädagogische Initiativen, die in diesem Zusammenhang unterstützen können.