Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Beamtenstreikrecht
Am 1. März 2023 kommt es zwischen der GEW und der Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Showdown in der Frage: Müssen Beamtinnen und Beamte ein Streikrecht erhalten? Die GEW sagt: „Ja“. Die Bundesrepublik sagt: „Nein“ – gestützt auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2018.
Was will die GEW?
Die GEW will das Beamtenrecht modernisieren und die Position der Beamtinnen und Beamten, der Lehrerinnen und Lehrer stärken.
Bis heute sind diese vom Wohlwollen der Arbeitgeber in Bund, Ländern und Kommunen abhängig. Der Dienstherr verordnet, wie lange gearbeitet werden soll. Er entscheidet über die Einkommen, die Erhöhung oder Kürzung der Bezahlung und die Arbeitsbedingungen. Allein! Ohne ein demokratisches Mitspracherecht der Beschäftigten. Aus „Fürsorge“. Das hört sich stark nach Ständestaat des 18. Jahrhunderts, nicht aber nach dem 21. Jahrhundert an.
Das will die GEW ändern, ohne dass sie den Beamtenstatus als solchen in Frage stellt.
Das Menschenrecht der Beschäftigten, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen, mit den Arbeitgebern über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln und dabei als letztes Mittel den Streik einzusetzen, wird durch die EMRK und das Internationale Arbeitsrecht geschützt. In Deutschland wird den Beamtinnen und Beamten dieses Recht jedoch vorenthalten. 2009 hat der EGMR das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte in der Türkei in mehreren Urteilen als für nicht mit der EMRK vereinbar bezeichnet. Das gelte für Beamtinnen und Beamte wie Lehrkräfte, die nicht wie Bundeswehr oder Polizei direkt „hoheitliche Aufgaben“ wahrnehmen.
Auch in Deutschland hängt das Streikverbot nicht an der Funktion – also dem, was man tut – sondern am Status als Beamtin oder Beamter. Deshalb sieht die GEW die Chance, die Diskussion über eine Demokratisierung des Beamtenrechts auch in der Bundesrepublik voranzubringen. Dafür braucht es – nach der Klärung juristischer Grundsatzfragen – viel politischen Gestaltungswillen!
Wie ist der aktuelle juristische Stand?
Am 1. März wird vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in mündlicher Verhandlung die Beschwerde von vier GEW-Mitgliedern gegen die Bundesrepublik verhandelt.
Die mündliche Verhandlung vor der großen Kammer des EGMR, die auf Englisch und Französisch stattfindet, wird am 1. März 2023 ab ca. 14:30 Uhr auf dem sogenannten Webcast des EGMR ins Netz gestellt.
Hintergrund: Die Lehrkräfte hatten 2009 dafür gestreikt, dass der Tarifabschluss für die Angestellten der Länder auf die Beamtenbesoldung übertragen wird. 2010 streikten sie gegen eine höhere Lehrverpflichtung und die Streichung der Altersermäßigung. Alle Lehrkräfte erhielten eine Disziplinarstrafe und klagten sich dagegen mit GEW-Rechtsschutz durch die Instanzen.
Das BVerfG entschied 2018, dass sich das Beamtenstreikverbot zwingend aus den „hergebrachten Grundsätzen des Beamtentums“ (einem „ungeschriebenen Gesetz“) ergebe. Dahinter müsse die in Artikel 9 des Grundgesetzes garantierte Koalitionsfreiheit, die das Streikrecht begründet, zurückstehen. Dagegen legten die vier Lehrkräfte Beschwerde beim EGMR ein, weil sie in der BVerfG-Entscheidung eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sehen.
Nach der mündlichen Verhandlung wird der EGMR – voraussichtlich – in den nächsten Monaten ein schriftliches Urteil fällen. Sollte dieses im Sinne der Klägerinnen und Kläger positiv ausfallen, wird die GEW den Auftrag, das Beamtenrecht zu modernisieren und ein Streikrecht gesetzlich möglich zu machen, gegenüber der Politik einfordern.
Denn: Die Bundesrepublik muss den EGMR-Entscheid nicht automatisch in deutsches Recht umsetzen! Schlimmstenfalls muss die GEW erneut vor Gericht ziehen. Entscheidet der EGMR gegen die GEW-Mitglieder, ist der juristische Weg beendet. Der politische Auftrag, seit 50 Jahren Beschlusslage bei GEW und DGB, hat sich damit nicht erledigt.
Wie verlief der juristische Weg bisher?
Die drei Kolleginnen und ein Kollege aus vier Bundesländern waren – wie Tausende andere GEW-Mitglieder – 2009 und 2010 Warnstreikaufrufen der GEW gefolgt und hatten zwischen einer Stunde und drei Tagen Unterricht nicht erteilt.
2009 forderte die GEW, dass der Tarifabschluss für die Angestellten der Länder auf die Beamtenbesoldung übertragen wird. Das war damals alles andere als selbstverständlich: Nach der Föderalismusreform 2006 hatten immer mehr Bundesländer beispielsweise die Jahressonderzahlung gestrichen sowie Besoldungserhöhungen verspätet, abgespeckt oder gar nicht gezahlt.
2010 war die Arbeitszeit der Lehrkräfte Anlass des Streikaufrufs, konkret eine höhere Lehrverpflichtung und die Streichung der Altersermäßigung in der Pflichtstundenverordnung des Landes.
In allen Fällen ging es also um Kernfragen der Arbeitsbedingungen.
Der weitere Verfahrensgang kann hier in der Chronologie nachvollzogen werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 12. Juni 2018 das Urteil in Karlsruhe verkündet. Damit bleibt es dabei: Beamtinnen und Beamte dürfen nicht streiken. Das gilt auch weiterhin für verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer. Das Bundesverfassungsgericht hat am 12. Juni 2018 die Verfassungsbeschwerden der vier Lehrerinnen und Lehrer, die die GEW vertritt, zurückgewiesen. Bereits im Januar 2018 wurden vor dem Bundesverfassungsgericht ein Fall aus Nordrhein-Westfalen, ein Fall aus Schleswig-Holstein sowie zwei niedersächsische Fälle verbeamteter Lehrkräfte mündlich verhandelt. Ende September 2015 wurden – neben anderen Verbänden und Sachverständigen – die GEW, der DGB sowie ver.di vom Bundesverfassungsgericht zu einer Stellungnahme eingeladen.
„Das ist ein Schwarzer Tag für Demokratie und Menschenrechte“, kommentierte die damalige GEW-Vorsitzende Marlis Tepe das Urteil. Aus dem Urteil geht hervor, dass Beamtinnen und Beamte sich in Deutschland zwar in Gewerkschaften zusammenschließen, aber eben nicht streiken dürfen. Das höchste deutsche Gericht hält das für verfassungsgemäß. Das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit fände eine Schranke in den sogenannten „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“, begründete der Präsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle, das Urteil.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 12. Juni 2018 das Streikverbot gestärkt und die Beschwerde der GEW zurückgewiesen. Mit diesem Urteil ist der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg geöffnet. Die GEW hat intensiv diskutiert und Ende November 2018 entschieden, dass sie elf Kolleginnen und Kollegen, die wegen einer Streikteilnahme disziplinarisch belangt wurden, dabei unterstützt, Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen.
Die GEW hat ihre Positionen im Wege einer sogenannten Drittintervention in das Verfahren eingebracht. Eine Drittintervention bietet Gewerkschaften und Berufsverbänden die Möglichkeit, ihre Positionen in das Verfahren einzubringen, sofern eigene Rechte betroffen sind.
Die GEW sieht sich durch das Beamtenstreikverbot in ihrer Tätigkeit als Gewerkschaft beschränkt, sich für eine Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer verbeamteten Mitglieder einzusetzen. Da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Beamtenstreikverbot einen Kernbereich gewerkschaftlicher Tätigkeit betrifft, haben auch der DGB sowie der Europäische Gewerkschaftsbund eine Drittintervention eingereicht.
Wie steht es um die Streikrechte der Lehrkräfte?
Sich zusammenschließen und Gewerkschaften beitreten dürfen auch verbeamtete Lehrkräfte – deshalb ist die GEW die größte Gewerkschaft im Bildungsbereich. Aber Beamtinnen und Beamte dürfen nicht streiken – diese konservative Rechtsauffassung ist Mehrheitsmeinung unter Juristinnen und Juristen in Deutschland.
In der Vergangenheit sind jedoch immer wieder auch verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer den Streikaufrufen der GEW gefolgt. Sie haben Disziplinarmaßnahmen in Kauf genommen, z. B. Verweise oder Rügen, die nach einigen Jahren aus der Personalakte entfernt wurden. Um die mit internationalem Recht nicht mehr vereinbare, konservative Rechtsauffassung zu verändern, hat die GEW seit 2009 einzelne Kolleginnen und Kollegen unterstützt, wenn sie gegen die Disziplinarmaßnahmen klagen wollten.
„Wer verbeamtet ist, darf und muss nicht streiken“ – diese Auffassung vertreten konservative Juristinnen und Juristen in Deutschland bis heute. Diese Rechtsauslegung stützt sich auf Artikel 33, Absatz 5 des Grundgesetzes: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.“
Darin wird der Streik allerdings nicht verboten. Stattdessen werden „Grundsätze des Berufsbeamtentums“ angeführt, die zu regeln sind. Diese Grundsätze sind teils bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Traditionen, die nie von einem Parlament beschlossen, sondern nur von Richtern und Rechtsgelehrten weiterentwickelt wurden. Sie ranken sich häufig um altmodisch anmutende Begriffe wie „besondere Treuepflicht“ oder „amtsangemessene Alimentation“. Dahinter verbirgt sich die Fiktion, Beamtinnen und Beamte würden nicht für eine bestimmte Leistung, die sie zu erbringen haben, bezahlt, sondern zu Monatsanfang der Würde ihres Amtes entsprechend ausreichend alimentiert, um sich unabhängig und frei von Existenzsorgen ganz der Amtsführung hingeben zu können.
Nach Auffassung von GEW, DGB und ver.di verbieten diese Grundsätze den Streik nicht. Im Gegenteil: Das Beamtenrecht kann und muss reformiert und die Treuepflicht neu interpretiert werden. Dadurch wird der Status der Beamtinnen und Beamte aber nicht aufgegeben: An den Anforderungen wie Loyalität, dem vollen beruflichen Einsatz oder der unabhängigen Wahrnehmung der Amtspflichten ändert sich nichts und damit auch nicht am Status der Beamtinnen und Beamten.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 12. Juni 2018 jedoch eine andere Haltung vertreten und das Streikverbot von Beamtinnen und Beamten für verfassungsgemäß erklärt.
Tarifverhandlungen beginnen üblicherweise damit, dass die Gewerkschaften ihre Forderungen z. B. nach einer Gehaltserhöhung oder Arbeitszeitverkürzung vortragen und vom Arbeitgeber dazu ein Angebot erwarten. Erst wenn dieses nicht kommt oder nicht akzeptabel ist und alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, greifen die Gewerkschaften zum Streik als ihrem letzten Druckmittel. Gerade weil die Dienstherren das Verhandeln auf Augenhöhe beharrlich verweigern, sahen sich die Beschäftigten in der Vergangenheit zum Streiken genötigt, um ihren Interessen Nachdruck zu verleihen. Auch in Tarifauseinandersetzungen für die angestellten Lehrkräfte hat die GEW immer wieder bewiesen, dass sie mit dem Mittel des Streiks verantwortungsvoll umgeht. Erst wenn die Arbeitgeber sich in den Verhandlungen absolut nicht bewegt haben, hat die GEW zu Warnstreiks aufgerufen.
Das Beamtenstreikrecht räumt auch Beamtinnen und Beamten das Menschenrecht ein, den Arbeitskampf als letztes Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen. Die Gewerkschaften gehen – wie das Völkerrecht und das internationale Arbeitsrecht – davon aus, dass es ein Menschenrecht auf Kollektivverhandlungen zur fairen Aushandlung der Arbeitsbedingungen gibt. Das ist Teil der nicht verhandelbaren gewerkschaftlichen Grundüberzeugungen.
Die Landesregierungen können die Arbeitsbedingungen der Beamtinnen und Beamten einseitig diktieren. Dadurch haben Beamtinnen und Beamte insbesondere in den Jahren nach der Föderalisierung des Dienstrechts ab 2006 viele Einschnitte hinnehmen müssen wie Streichung des Urlaubsgelds, Abkopplung von den Tariferhöhungen oder Erhöhung der Arbeitszeit. Inzwischen gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern.
Besonders klar zeigt sich die Auswirkung des Streikverbots bei der Arbeitszeit der Lehrkräfte: Während die Gewerkschaften im Laufe der letzten 150 Jahre sukzessive eine Halbierung der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit in Deutschland erstreiken konnten, müssen Lehrerinnen und Lehrer heute noch genauso lange vor der Klasse stehen wie zu Kaisers Zeiten.
Wenn Beamtinnen und Beamten das Recht auf Streik haben, können sie auch für ihre Interessen kämpfen und müssen das Diktat der Arbeitsbedingungen durch die Landesregierungen nicht länger hinnehmen.
Was sind die Chancen? Gibt es Risiken?
Nein. Schon seit den frühen 1970er Jahren ist es Beschlusslage des DGB, auch Beamtinnen und Beamten die vollen Koalitionsrechte zuzugestehen. Dazu gehört – außerhalb des Kernbereichs hoheitlicher Tätigkeit – auch das Recht, zum Streik als letztes Mittel zu greifen. Auch der Europäische Gewerkschaftsbund und der Internationale Gewerkschaftsbund haben wiederholt das pauschale Beamtenstreikverbot in Deutschland kritisiert.
Die Bundesrepublik Deutschland steht wegen des Beamtenstreikverbots seit Jahrzehnten in der Kritik internationaler Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, der UN-Komitees für Menschenrechte und für Sozialschutz oder dem Europäischen Komitee für Soziale Rechte. Das ficht die verschiedenen Bundesregierungen (egal welcher politischer Couleur) aber nicht an, sie verteidigen das Streikverbot stets mit Verweis auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums als angeblich zentralen Bestandteil der deutschen Staatsarchitektur.
Für Menschen aus anderen demokratischen Ländern mutet diese Argumentation sehr befremdlich an. Viele europäische Länder kennen einen Beamtenstatus mit Lebenszeitprinzip und Alimentationsanspruch. Doch keines dieser Länder käme auf die Idee, deshalb das Streikrecht völlig unabhängig von der konkreten Funktion der Beschäftigten kategorisch auszuschließen.
Die Einigkeit zeigte sich auch in der gemeinsamen Stellungnahme von GEW, DGB und ver.di für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Darin machten die Gewerkschaften deutlich, dass nicht der Gesetzgeber die Kollisionslage zwischen dem nationalen und dem Völkerrecht auflösen muss. Das Bundesverfassungsgericht selbst sei befugt und verpflichtet, die Widerspruchsfreiheit herzustellen. Auch das Arbeitskampfrecht der Tarifbeschäftigten sei schließlich Richterrecht. Die von den Gerichten entwickelten Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeit von Streiks gelten unabhängig vom Status der Streikenden. Vorschläge, die Beteiligungsrechte der Beamtinnen und Beamten zu erweitern, endeten beim Letztentscheidungsrecht der Dienstherren, also der Exekutive oder des Parlaments. Diese Vorschläge lösten deshalb das Problem nicht, sondern würden das „kollektive Betteln“ nur auf eine höhere Stufe heben.
Nein. Trotz der Einschränkung der Verhandlungsrechte ist der Beamtenstatus bei vielen Menschen beliebt. Viele Vorteile des Beamtenstatus sind aber in den vergangenen Jahren gefallen. Die Arbeitszeit hat sich erhöht, die Besoldung wurde von den durch Streiks der Angestellten erkämpften Tariferhöhungen abgekoppelt, in vielen Ländern wurde das Urlaubs- und Weihnachtsgeld gestrichen. Gerade weil Beamtinnen und Beamte sich nicht gegen das einseitige Diktat der Landesregierungen zur Wehr setzen können, verschlechterten sich ihre Arbeitsbedingungen. Erst mit dem Recht auf Streik werden verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer ihre Interessen stärker und besser vertreten können.
In Wahrheit wird das „besondere gegenseitige Dienst- und Treueverhältnis“ seit Jahren durch die öffentlichen Arbeitgeber ausgehöhlt: Beamtinnen und Beamte arbeiten in börsennotierten Unternehmen, hoheitliche Aufgaben werden von privaten Sicherheitsfirmen erledigt, in Verwaltungen und Schulen machen angestellte und verbeamtete Kolleginnen und Kollegen nebeneinander die gleiche Arbeit. Die Arbeitgeber spalten die Belegschaft in Beamtinnen und Beamte (die nicht streiken dürfen) und Angestellte. Das schürt Missgunst zwischen den Beschäftigten und schwächt damit deren Durchsetzungskraft.
Die GEW macht sich dafür stark, die Spaltung zwischen Angestellten und Beamtinnen und Beamten aufzuheben, damit beide Beschäftigtengruppen ihre Interessen mit dem Mittel des Streiks durchsetzen können.
Wahrscheinlich nicht. Für den Arbeitgeber, den „Dienstherrn“, hat der Beamtenstatus viele Vorteile: Er kann qualifiziertes Personal binden, über Bezahlung und Arbeitszeit allein entscheiden und entzieht sich den Kosten der Sozialversicherung. Am Ende entscheidet deshalb im Kern immer das Finanzministerium, ob verbeamtet wird oder nicht. Wenn Lehrkräfte knapp sind, werden sie mit dem Beamtenstatus gelockt. Das konnte man zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin beobachten. Wenn es mal wieder zu viele Lehrkräfte geben sollte, wird man sich – Streikrecht hin oder her – wieder verstärkt der Vorteile des „hire and fire“-Prinzips befristeter Angestellter erinnern.
In vielen europäischen Ländern gibt es im öffentlichen Dienst besondere Beschäftigungsverhältnisse, die denen des deutschen Beamtenstatus‘ ähnlich sind. Der Staat wie auch die Gesellschaft haben ein großes Interesse an qualifiziertem Personal und kontinuierlicher, zuverlässiger Erfüllung staatlicher Aufgaben. Das gewährleistet der Staat fast überall weniger durch Spitzengehälter als durch bessere soziale Absicherung. Doch kein anderer demokratischer Staat kommt auf die Idee, deshalb Grundrechte eines Teils seiner Beschäftigten außer Kraft zu setzen. Im Übrigen hat gerade die GEW in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sie mit dem Instrument des Streiks durchaus verantwortungsvoll umgehen kann.
Das Gegenteil ist der Fall! Schon jetzt darf ein Teil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst streiken, einem anderen Teil – den Beamt*innen – ist dies offiziell verwehrt. Das schwächt die Kampfkraft der Gewerkschaften enorm und spaltet die Belegschaften. Daher hatte sich nicht nur die GEW, sondern auch der DGB und der EGB in dem Verfahren vor dem EGMR zu einer sog. Drittintervention entschlossen. Diese steht Dritten offen, die sich in ihren Grundrechten beeinträchtigt sehen.
Würden auch die Arbeitsbedingungen der Beamt*innen, soweit sie nicht zu den grundgesetzlich geschützten Strukturprinzipien des Beamtenstatus gehören, in freien Verhandlungen ausgehandelt, so könnten alle Statusgruppen gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst kämpfen. Dass dabei die hoheitlich tätigen Kolleg*innen, die auch nach internationalen Kriterien nicht streiken dürfen, nicht vergessen werden, ist selbstverständlich Teil der gewerkschaftlichen Solidarität.
Blick in die Geschichte
Tatsächlich kämpft die GEW bereits seit den 1970er Jahren für das Beamtenstreikrecht. Auf dem Weg dorthin hat es immer wieder unterschiedliche Urteile gegeben. Besonders entscheidend sind aber zwei Urteile von 2009 und 2014:
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte 2009, dass das Streikrecht und das Recht auf kollektive Vereinbarung der Arbeitsbedingungen Menschenrechte sind, die den Beschäftigten nicht einfach mit Verweis auf einen „Beamtenstatus“ abgesprochen werden dürfen. Einschränkungen des Streikrechts sind im internationalen Recht nur zulässig auf gesetzlicher Grundlage und ausschließlich dort, wo die Beschäftigten im engen Sinne hoheitlich tätig sind (Polizei, Justizvollzug und Streitkräfte) – dort wiederum unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses.
2014 sah das Bundesverwaltungsgericht einen offensichtlichen Widerspruch zwischen dem für Deutschland bindenden internationalen Recht (Europäische Menschenrechtskonvention) und dem nationalen Verfassungsrecht. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt die Auffassung, dass dieser Widerspruch nur durch den Gesetzgeber aufgelöst werden kann. Bis dahin allerdings gelte das Beamtenstreikverbot fort. Als sich die Bundesregierung Anfang 2015 erneut wegen des Beamtenstreikverbots vor der ILO rechtfertigen musste, zog sie sich darauf zurück, sie wolle dem Bundesverfassungsgericht nicht vorgreifen.
2018 kam es dann im Januar zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht, im Sommer 2018 wurde das Urteil veröffentlicht. Die obersten Richterinnen und Richter bestätigten voll und ganz die konservative Linie der deutschen Rechtswissenschaft: Das Streikverbot sei Teil der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, die nach Art.33 Abs.5 Grundgesetz zu beachten seien, und das Berufsbeamtentum als solches ein essentieller Teil der deutschen Staatsarchitektur. Die in Art.9 Grundgesetz „für jedermann“ garantierte Koalitionsfreiheit muss dahinter zurückstehen.
Schon als die GEW sich 2009 entschied, gegen Disziplinarverfahren vorzugehen, hatte sie entschieden, nötigenfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. Daher legten Ende 2018 mehrere GEW-Mitglieder Beschwerde gegen das Urteil des BVerfG ein. Diese Verfahren wurden 2022 an die Große Kammer des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überwiesen. Am 1. März 2023 findet dort eine mündliche Verhandlung statt.
Einen kompletten Überblick über die Geschichte der Urteile zum Beamtenstreikrecht gibt es hier.