GEW schlägt Tarifverträge in der Weiterbildung vor
Bildungsgewerkschaft zum „Herrenberg-Urteil“ zur Scheinselbstständigkeit
Frankfurt a.M. – Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) schlägt für die Weiterbildung tarifvertraglich gesicherte Beschäftigungsverhältnisse vor. Diese sollten auf dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) liegen – bei einer Unterrichtsverpflichtung von maximal 25 Einheiten pro Woche in Vollzeit. „Damit die Träger das leisten können, müssen Bund, Länder und Kommunen sie entsprechend refinanzieren. So werden ein qualitativ gutes Angebot und gute Arbeit möglich“, sagte Ralf Becker, GEW-Vorstandsmitglied für Berufliche Bildung und Weiterbildung, am Dienstag in Frankfurt a.M. „Bildung ist eine staatliche Aufgabe. Damit dort, wo staatliche Gelder fließen, auch gute Arbeitsbedingungen herrschen, setzt sich die GEW für ein Bundestariftreuegesetz ein, wie es die Ampelregierung im Koalitionsvertrag vereinbart hat. Dieses Gesetz soll die Vergabe von Aufträgen des Bundes an die Einhaltung repräsentativer Tarifverträge koppeln.“
Info: Hintergrund ist ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Juni 2022 (Az. B 12 R 3/20 R) zur Scheinselbstständigkeit von Honorarkräften in der Weiterbildung. Die Entscheidung schlägt aktuell Wellen, weil die Deutsche Rentenversicherung (DRV) derzeit auf Basis des BSG-Urteils vermehrt Betriebsprüfungen im Weiterbildungsbereich durchführt, in denen es um Scheinselbstständigkeit geht.
Nach Auffassung des BSG war eine Klavierlehrerin an einer Musikschule in Herrenberg „scheinselbstständig“. Das bedeutet: Obwohl sie als selbstständige Honorarlehrkraft beschäftigt wurde, bestand für den Arbeitgeber Sozialversicherungspflicht. Die Musikschule muss nun erhebliche Rentenversicherungsbeiträge nachzahlen. Das ist insoweit nichts Neues, denn das BSG hatte schon in der Vergangenheit in mehreren Urteilen Honorarlehrkräfte als scheinselbstständig bewertet. Neu ist nach Auffassung vieler Sozialrechtlerinnen und -rechtler die Begründung des Urteils, in der das Gericht die Kriterien für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sehr viel weiter fasst als zuvor. Für eine abhängige Beschäftigung reiche es demnach aus, dass die Lehrerin nicht unternehmerisch auf dem Markt auftrat und die gesamte Organisation der Kurse in den Händen der Musikschule lag. Das Urteil ist zwar – wie auch frühere – eine Einzelfallentscheidung, hat aber insbesondere bei den kommunalen Musikschulen in ganz Deutschland zu großer Verunsicherung geführt, ob sie diese Honorarlehrkräfte überhaupt noch rechtssicher beschäftigten können.
Die Bedeutung des Urteils geht aber weit über die Musikschulen hinaus. Eine Vielzahl der Träger in der Weiterbildung (etwa Volkshochschulen, Integrationskursanbieter, Grundbildungszentren, Träger beruflicher Weiterbildung für die Bundesagentur für Arbeit (BA)) setzt aus Kostengründen überwiegend Honorarlehrkräfte ein. Diese müssen aus einem oft schmalen Honorar ihre gesamte Sozialversicherung selbst tragen. Da laut Auskunft der Träger die DRV derzeit auf Grundlage des Herrenberg-Urteils vermehrt Betriebsprüfungen durchführt, haben viele bereits begonnen, den Honorarlehrkräften Arbeitsverträge anzubieten, um auf der sicheren Seite zu sein. Dies aber oft zu Bedingungen, die für die Beschäftigten eine weitere Verschlechterung ihrer ohnehin prekären Situation bedeuten. So sollen Lehrkräfte in Teilzeit auf dem Niveau des Mindestlohns Weiterbildung beschäftigt werden, wobei sie laut GEW-Informationen bei 30 Stunden Arbeitszeit volle 30 Stunden unterrichten müssen. Es bliebe also keine Zeit für die Vor- und Nachbereitung oder sonstige Tätigkeiten. Das Nettoeinkommen der Beschäftigten wäre noch geringer als zuvor auf Honorarbasis bei voller Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge.
Von den rund einer Million Beschäftigten in der Erwachsenen- und Weiterbildung ist weit mehr als die Hälfte als Honorarlehrkräfte tätig. Viele arbeiten überwiegend oder ausschließlich für einen Träger und erzielen aus dieser Tätigkeit ihr gesamtes Einkommen. Sie müssen alle Sozialversicherungsbeiträge selbst zahlen, haben keinen Kündigungsschutz und keinen Lohnfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall. Die große Mehrheit dieser Honorarlehrkräfte ist nicht freiwillig selbstständig, sondern würde eine Festanstellung zu fairen Konditionen bevorzugen.
Ein erheblicher Teil der Weiterbildungsangebote ist staatlich finanziert. Volkshochschulen und Musikschulen sind in der Regel in kommunaler Trägerschaft, viele freie Träger bieten Integrationskurse für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), berufliche Weiterbildungen für die BA oder die Jobcenter an, für die sie nach Teilnehmendenzahl mit dem jeweiligen Amt abrechnen. Das BAMF macht für Honorarlehrkräfte ein Mindesthonorar von derzeit 43,92 Euro pro Unterrichtseinheit zur Voraussetzung, bei der BA gilt ein vergabespezifischer Mindestlohn, der für Vertragslehrkräfte ein Monatsbruttoeinkommen von bis zu 3.247 Euro bei einer 39-Stunden-Woche vorsieht. Das sei deutlich weniger als eine akademisch ausgebildete Lehrkraft verdienen sollte, so GEW-Vorstandsmitglied Becker. Um auf dem Niveau des TVöD zu bezahlen, brauchten die Träger erheblich mehr Geld. Sonst müssten sie ihr Angebot erheblich zusammenstreichen.
60489 Frankfurt